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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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religiös bin, aber ich glaube an etwas, das größer ist als wir. Und du?“
    „Hast du schon mal vom Tier aus der Erde gehört?“, fragte Nyawĩra ihn plötzlich. „Du hast sicherlich das Gerücht gehört, dass der Herrscher von Aburĩria den Teufel anbetet und dass er das im Namen des Tiers aus der Erde tut?“
    Kamĩtĩ ahnte mehr, als dass er genau wusste, worüber sie sprach, aber es reichte aus, von Neuem Verdächtigungen in ihm aufkommen zu lassen. Gehörte diese Frau vielleicht zum gefürchteten M5 des Herrschers? Würde das nicht erklären, warum sie sich als Bettlerin verkleidet hat? War er Opfer eines weiteren Komplotts? Und sie versuchte, ihn bloßzustellen? Wenn ja, dann beherrschte sie das recht gut. Ihre Art zu reden und ihre Freundlichkeit hatten ihn weich werden lassen. Auch wenn sie nicht in allem übereinstimmten, so hatten ihre unterschiedlichen Meinungen weder Hass noch Unmut aufkommen lassen. Sie unterhielten sich, als wären sie gemeinsam aufgewachsen, hätten Zeiten des Glücks und der Trauer miteinander durchlebt. Kamĩtĩ empfand ihre Gesellschaft als so vertraut, dass er das Gefühl hatte, ihr seine geheimsten Gedanken und Erfahrungen anvertrauen zu können. Aber waren die Agenten des Staates nicht dafür bekannt, ihre Opfer so lang zu bezirzen, bis sie aus der Deckung kamen, um dann über sie herzufallen? Kamĩtĩ nahm sich jetzt vor Nyawĩra in Acht und zog sich in sich zurück.
    „Was meinst du mit dem Tier aus der Erde?“
    „Das, das auf dem Bauch kriecht.“
    „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“
    „Das Tier, das Adam und Eva betrogen hat.“ Nyawĩra erhob sich, ging zu ihrer Bettlertasche und beugte sich darüber. Kamĩtĩ sah, dass sie etwas herausholte, was sie nun hinter ihrem Rücken versteckt hielt, als sie ihm gegenüberstand.
    „Mach die Augen zu“, sagte sie lächelnd.
    Kamĩtĩ bedeckte seine Augen mit den Handflächen, spähte aber durch den Spalt zwischen seinen Fingern.
    „Augen wieder auf!“, sagte Nyawĩra und ließ das, was sie in ihrer Hand hielt, wenige Zentimeter vor seinem Gesicht baumeln. Kamĩtĩ sprang auf.
    „Eine Schlange!“, schrie er und rannte zur Tür.
    Aber Nyawĩra verstellte ihm den Weg.
    „Nein, ich lasse dich nicht gehen“, sagte sie und streckte ihm die züngelnde Schlange entgegen. „Das ist eine Viper, sie ist gefährlich“, flüsterte sie drohend.

10
    Als Kind hatte Kamĩtĩ Geschichten von Frauen gehört, die in den großen Wassern hausten und manchmal neben ahnungslosen Schwimmern auftauchten und sie zu den Ufern der Meere begleiteten. Ihre Gesichter waren sehr schön, die Oberteile ihrer Schwimmkleider legten sich zart über die aufgerichteten Brustwarzen und ihre schmalen Hüften schienen den Betrachter zur Umarmung einzuladen.
    Häufig konnte man sie, wenn man am Ufer stand, draußen auf dem Meer erkennen, wie sie auf den Wellenkämmen ritten, Wasser nach allen Seiten spritzten und einander zu unbekanntem Ziel antrieben. Manchmal summten sie schwimmenden Männern die lieblichsten Melodien ins Ohr, und nur wenige konnten, vor allem wenn sie allein waren, der Macht dieser wortlosen Lieder widerstehen. Es gab furchterregende Geschichten von Männern, die diesen Wasserwesen bis zu ihren Verstecken auf dem Meeresgrund folgten, nur um festzustellen, dass die Frauen keine Beine hatten, sondern ihre Unterleiber aus Fischschwänzen bestanden, deren Schuppen groß genug waren, jemanden in tausend Stücke zu schneiden. Einige hatten Glück und entkamen, aber viele von ihnen blieben für immer verschwunden, Opfer der Verlockungen dieser Wellenreiterinnen.
    Andere Geschichten erzählten von Frauen, die jede beliebige Gestalt annehmen konnten. Sie verwandelten sich in Gazellen oder Antilopen, meistens aber in Katzen. So manchem jungen Mann war es passiert, dass er in der Abenddämmerung Hand in Hand mit der Frau seiner Träume spazierenging, auf die Dunkelheit wartend, um seine Begierden zu stillen, und plötzlich in die glühenden Augen einer Katze schaute.
    War Nyawĩra eine dieser Frauen aus seinen Kindheitsängsten? Verschiedene Bilder von ihr gingen ihm durch den Kopf. Im Büro war sie Sekretärin gewesen, am Straßenrand hatte sie ihn getröstet und am Abend war sie Bettlerin unter Bettlern. Später dann, im offenen Grasland, rannte sie ihm und drei Polizisten mühelos davon. Jetzt verhinderte sie seine Flucht und ließ eine züngelnde Schlange vor seinem Gesicht tanzen. Und da war noch etwas: Als sie erzählte, hatte sie

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