Herr der Krähen
weglassen, warnte sie der Herr der Krähen und sah ihr in die Augen. Wenn sie seine Hilfe wolle, müsse sie ihm die ganze Wahrheit erzählen, sagte er sanft, aber bestimmt. Wie schnell dieser Zauberer meine Gedanken erraten hat, dachte sie ein wenig eingeschüchtert und erzählte ihre Geschichte weitgehend offen und ehrlich.
Sie berichtete, wie Tajirika eines Abends mit drei Säcken Burĩ-Scheinen nach Hause gekommen war, wie er sich an den Wohnzimmertisch gesetzt und das Geld Schein für Schein gezählt, Zwischensummen aufgeschrieben hatte und alle Augenblicke vor lauter Freude aufgesprungen war. Er hatte sie zu sich gerufen, damit sie ihm Gesellschaft leistete, während er addierte. Und er hatte ihr gesagt, dies sei nur der Anfang besserer Zeiten. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, wie Tajirika sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, die Füße auf den Tisch gelegt und wie in Trance immer wieder gesagt hatte: „Das ist erst der Anfang“, „das ist erst der Anfang“. Immer wieder.
„Meine liebe Vinjinia, du hast keine Ahnung“, hatte er gesagt. „Heute Morgen ist meine Ernennung zum Vorsitzenden von Marching to Heaven bekannt gegeben worden, und bereits am Abend gehört mir das alles hier. Die nächsten Tage werden noch mehr Geld bringen, weil noch viel mehr Leute vorbeikommen werden. Wenn mir nur ein einziger Tag so viel einbringt, obwohl Marching to Heaven noch nicht einmal begonnen hat, wird sich mein Geld zu riesigen Bergen auftürmen, sobald die Global Bank ihre Kredite freigibt und der Bau wirklich beginnt. Und wenn alles erledigt ist, bin ich der reichste Mann in Aburĩria, der reichste Mann in ganz Afrika, vielleicht der reichste Mann auf der ganzen Welt, und ich werde in der Lage sein, mir alles leisten zu können, was ich nur will, außer … außer …“, und in genau diesem Augenblick erfasste ihn ein heftiger Hustenanfall und er brachte den Gedanken nicht mehr zu Ende. Er lief wie von Sinnen ins Bad und blieb sehr lange dort. Vinjinia erzählte, welche Sorgen sie sich gemacht hatte, und wie sie schließlich ins Bad gegangen war, um nach ihm zu sehen. Dort hatte sie ihn vor dem Spiegel gefunden, wie er immer wieder das Wort „wenn“ vor sich hin sprach. Tag um Tag ging das so weiter, und schließlich hatte sie alle Spiegel im Haus entfernt. Tajirikas Anfälle seien im Laufe der Zeit immer schlimmer geworden, und inzwischen sitze er nur noch da und starre vor sich hin. So, wie ihn der Zauberer jetzt vor sich sehe … „Das ist alles“, sagte sie dann ziemlich abrupt.
Nyawĩra verglich diese Version der Geschichte mit der, die Vinjinia ihr im Büro erzählt hatte und entdeckte einige aufschlussreiche Abweichungen. Von Tajirikas Besessenheit, der reichste Mann in Aburĩria, in Afrika und der ganzen Welt zu werden, hatte Vinjinia damals nichts gesagt. Auch hatte sie nicht erwähnt, dass Tajirikas „Wenn“-Anfälle an genau dem Abend begonnen hatten, an dem er das Geld mit nach Hause gebracht und gezählt hatte. Sie hatte ihr erzählt, die „Wenns“ hätten erst am nächsten Morgen angefangen.
Vinjinia wartete mit klopfendem Herzen auf eine Antwort des Herrn der Krähen. Eigentlich hatte sie ihm alles berichten wollen, es dann aber nicht über sich gebracht zu erzählen, wie Tajirika sich das Gesicht zerkratzte – der eigentliche Grund für die Entfernung der Spiegel.
„Hast du mir die ganze Wahrheit gesagt?“, fragte der Herr der Krähen.
„Ja“, antwortete Vinjinia. Er mochte ja fähig sein, die Krähen vom Himmel zu zwingen, aber auf keinen Fall konnte er wissen, was sie ausgelassen hatte, dachte sie sich.
„Es spielt auch keine Rolle“, sprach der Herr der Krähen jetzt. „Mein Zauberspiegel wird mir offenbaren, was du ungesagt gelassen hast. Jetzt dreh sein Gesicht in diese Richtung und zwinge ihn, in diese Öffnung zu schauen.“
Wieder spürte Vinjinia, wie ihr Herz raste. Woher wusste er, dass sie nicht alles gesagt hatte? Vielleicht sollte ich gestehen … Aber bevor sie diesen Gedanken zu Ende bringen konnte, war das Gesicht des Herrn der Krähen in der Öffnung bereits durch einen Spiegel ersetzt worden.
Die Wirkung des Spiegels auf Tajirika war unmittelbar. Er erwachte wie aus einem Traum, starrte hinein und begann sich im Gesicht zu kratzen. Vinjinia stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Sie taumelte, packte ihn an der Taille und wollte ihn vom Spiegel wegziehen. Tränen liefen über ihr Gesicht, eine Mischung aus Angst um ihn und das peinliche Eingeständnis,
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