Herr der Krähen
halten, sondern auch, weil sie die tatsächliche Summe wissen wollte.
„Sie hätten sehen sollen, wie viel!“, antwortete Vinjinia voller Stolz und Furcht und vergewisserte sich, dass die Polizisten, die das Anwesen bewachten, sich nicht in Hörweite befanden. „Alle drei Säcke waren voller Geldscheine, und nicht ein einziger war weniger als einhundert Burĩ.“
„Drei Säcke bis oben hin voll mit Scheinen?“, fragte Nyawĩra theatralisch.
„Das beweist doch, dass sich nicht jeder für ihn und mit ihm freute“, meinte Vinjinia. „Als Übeltäter kommen alle in Frage, die diese Säcke mit Geld gefüllt haben.“
„Klar, verstehe“, sagte Nyawĩra, die von dem Gerede über Hexerei langsam genug hatte. „Was Sie jetzt brauchen, ist ein guter Zauberheiler“, fügte sie hinzu, wohl auch, weil sie die gläubige Christin ein wenig schockieren wollte; eigentlich war sie jedoch über Vinjinias Gleichgültigkeit entsetzt.
„Das einzige Problem besteht darin“, erwiderte Vinjinia nüchtern, „dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wo ich einen Zauberheiler auftreiben soll.“
Offensichtlich rechnete sie damit, Nyawĩra sei ebenso ahnungslos wie sie, aber sie irrte sich.
Nyawĩra hatte eine Idee. Warum war sie nicht eher darauf gekommen? Schließlich gab es den Herrn der Krähen!
Die Vorstellung, Tajirika könne ausgerechnet bei einer Person Heilung suchen, die er gedemütigt hatte, amüsierte sie.
„Ich habe gehört“, sagte Nyawĩra, „ein neuer Zauberheiler soll sich in der Stadt niedergelassen haben. Der Herr der Krähen!“
„Wo kann ich ihn finden? Ich meine, wo hat er seinen Schrein?“
„In Santalucia, im Süden.“
„Im Süden von Santalucia?“, schrie Vinjinia mit ungespieltem Entsetzen. „Sie meinen, in den südlichen Slums, wo die ar … armen Menschen …“, stotterte sie ein wenig verwirrt, weil ihr einfiel, dass Nyawĩra in Santalucia wohnte.
Vinjinia schien ehrlich entsetzt von der Vorstellung, in einen Slum gehen zu müssen. Aber je mehr sie an den Gestank des Handschuhs und Tajirikas lange, schmutzverkrustete Fingernägel dachte, desto klarer wurde ihr, ihren Ekel vor solchen Orten bezähmen zu müssen. Die Krankheit ihres Mannes verschlimmerte sich, und sie sah keinen anderen Ausweg, als dem Herrn der Krähen einen Besuch abzustatten.
„Ich bin ein treues Gemeindemitglied der All Saints Cathedral. Ich weiß, was sie dort von mir halten würden, wenn sie den Verdacht hätten oder herausfänden, dass ich mich mit Zauberheilern einlasse“, sagte sie. „Ich möchte nicht exkommuniziert oder wie Maritha und Mariko zum Gegenstand wöchentlicher Geschichten werden. Aber momentan gibt es keinen Ort, den ich nicht für die Heilung meines Mannes aufsuchen würde. Wo finde ich diesen Herrn der Krähen? Und, Nyawĩra, bitte, kein Wort zu irgendjemandem“, flehte Vinjinia.
10
„Wie bitte? Tajirika soll zu mir kommen, damit ich ihn heile? Nein, ausgeschlossen. Damit kann ich nicht umgehen“, antwortete Kamĩtĩ instinktiv. Die Demütigung durch diesen Mann hatte ihn tief verletzt, und er fürchtete, der Anblick seines Peinigers würde ihn wütend machen.
„Ich nehme es auf mich, meinen Chef hierherzubringen, damit du sein Geld kriegst, und alles, was du sagen kannst, ist Nein? Warum sollte ich ihn hierherlocken, wenn ich nicht wüsste, dass diese Krankheit ein hoffnungsloser Fall ist? Du musst ihn dir einfach nur ansehen, ihn mit Spucke besprühen, ein bisschen Hokuspokus machen, ihn wieder nach Hause schicken und sein Geld einstecken.“
Er wollte nichts damit zu tun haben. Kamĩtĩ blieb hart.
„Ich werde ihn im Dunkeln herbringen; es besteht keine Gefahr, dass sich sein Schatten mit deinem kreuzt“, sagte Nyawĩra. Damit war die Spannung zwischen ihnen gelöst. Beide mussten lachen.
Während des Lachens fühlte sich Kamĩtĩ plötzlich von einem so machtvollen Gefühl ergriffen, dass er beinahe zu zittern anfing. Vergeltung. Das Glück brachte ihm seinen Feind, damit er sich auf das Süßeste an ihm rächen konnte. Seltsam, die Aussicht auf das Böse erregte ihn stärker als der Gedanke, Gutes zu tun.
Kamĩtĩ erzählte Nyawĩra kein Wort davon. Er wollte nicht, dass sie ihn von seinem Vorhaben abbrachte. Vielmehr wollte er sich an der Entwicklung seines Planes erfreuen. Er malte sich mögliche Begegnungen mit Tajirika aus und überlegte, wie er den Plan am besten in die Tat umsetzen könnte. Bevor Tajirika zu ihm kam, würde er draußen einen Anschlag anbringen:
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