Herr der Krähen
dem Herrn der Krähen nicht die volle Wahrheit gesagt zu haben. Tajirika setzte die Füße fest auf den Boden und streckte die Hände nach dem Spiegel aus. Vinjinia rang vergeblich mit ihrem Mann. Seine Hände blieben zum Spiegel hingestreckt und er stöhnte immer wieder: „Wenn! Wenn ich bloß!“
Wenn nicht offensichtlich etwas mit Tajirika gewesen wäre, Nyawĩra wäre in Lachen ausgebrochen. Die ganze Szene erinnerte sie an Cartoons aus dem Fernsehen. Als der Herr der Krähen den Spiegel wegnahm, fielen Ehemann und Ehefrau auf den Boden, als ob Tajirika von einem Bann befreit wäre. Nachdem sie sich aus seiner Umklammerung gelöst hatte, gelang es Vinjinia, ihn wieder auf den Stuhl zu setzen. Sie keuchte vor Anstrengung, und Tajirika weinte ungehemmt wie ein Kind, dem man das Lieblingsspielzeug weggenommen hat. Und während er nach Luft rang, wiederholte er: „Wenn! Wenn! Wenn!“
„Es tut mir leid, ich vergaß, Ihnen zu sagen, dass er sich fortwährend kratzt“, sagte sie verzagt zum Herrn der Krähen. „Dieses Weinen aber ist etwas völlig Neues“, fügte sie hinzu.
„Lass dich davon nicht beunruhigen.“
Sie war erleichtert. Der Herr der Krähen zeigte Verständnis und machte ihr wegen der Auslassung keinen Vorwurf. Umso stärker fühlte sie sich dadurch zu ihm hingezogen und gab sich Mühe, ihm jedes Wort von den Lippen zu lesen.
Der Herr der Krähen begann zu reden, als führte er in ihrer Gegenwart ein Selbstgespräch. Seine Stimme war voll und sanft, beschwichtigte und fing den Zuhörer ein. Auch Nyawĩra fühlte ihr Herz zu der Stimme hingezogen, als hätte sie sie nie zuvor gehört. Vinjinia kam die Stimme besonders machtvoll vor, weil sie körperlos war. Sogar Tajirika reagierte auf ihren besänftigenden Ton und beruhigte sich langsam, und zum ersten Mal seit Langem schien er jemandem zuzuhören. Vinjinia blieb diese Veränderung nicht verborgen und war der geheimnisvollen Stimme umso dankbarer.
„… und an dieser Stelle sind wir Wahrsager gefragt“, fuhr der Herr der Krähen fort, als würde er weiter mit Vinjinia reden. „Wörter sind Nahrung, Leib, Spiegel und Klang des Denkens. Erkennst du die Gefahr, die in Wörtern liegt, die herauswollen, aber nicht können? Du möchtest dich übergeben, aber das ganze Zeug bleibt dir in der Kehle stecken – du könntest daran ersticken. Die Krankheit deines Gatten ist noch nicht todbringend, weil ihre Heilung nicht außerhalb unserer Macht steht. Eine Krankheit zu erkennen, ist der erste Schritt zur Genesung, und ich bin überzeugt, das Problem deines Mannes liegt in der Differenzierung seiner ‚Wenns‘. Sie beschreiben negative und positive Wünsche. Die Gedanken deines Mannes stecken in seinem Kopf fest. Seine Wünsche können weder erfüllt noch verweigert werden. Sie sind Wortsplitter, die ihm im Hals stecken geblieben sind. Seine Feinde sitzen in ihm selbst und wollen ihn mit seinen unausgesprochenen Wünschen ersticken …“
Vinjinia spürte eine Mischung aus Furcht und Erstaunen.
„Und was wollen wir jetzt dagegen unternehmen?“, fragte sie den Herrn der Krähen.
„Für die Weissagung berechne ich nichts, aber für die Heilung muss man unter Umständen tief in die Tasche greifen.“
„Wie viel wird es kosten, diese Gedanken zu befreien?“
„Wie viel ist sein Leben wert?“, stellte der Herr der Krähen die Gegenfrage. Als Kamĩtĩ hatte er beschlossen, zwar keine Rache zu nehmen, Tajirika aber ganz bestimmt um die drei Säcke Bestechungsgeld zu erleichtern.
„Es gibt nichts, was ich nicht geben würde, um ihn von dem zu befreien, was ihn innerlich tötet. Herr der Krähen! Räuchern Sie seine Feinde aus! Treiben Sie sie bis vor die Tore der Hölle!“
„Nun, es liegt ganz an dir zu entscheiden. Der Fluch liegt auf dem Geld, das er erhalten hat. Bring die drei Säcke mit den Burĩ-Scheinen, damit wir herausfinden können, wo sich das Böse versteckt. Geh nach Hause und denk darüber nach. Komm morgen wieder, oder wann immer du willst. Dann können wir über meinen Lohn für die Befreiung deines Manns von seinen Wünschen reden.“
Vinjinia war von der Glaubwürdigkeit des Zauberers überzeugt, doch dass er aussprach, was sie selbst gedacht hatte, das Böse stecke in den Geldsäcken, ließ sie noch mehr an seine Kräfte glauben.
Sie wollte Tajirika sofort, noch an diesem Morgen, geheilt sehen und versprach, mit den drei Geldsäcken wiederzukommen, ja noch mehr mitzubringen, um zu bezahlen, was er für die Ausrottung des
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