Herr der Nacht
lauschte und erhob sich. Er hörte eine wundersame, schleppende Melodie, traurig und verträumt; sie paßte zu seiner Stimmung. Er schaute hinauf aufs Meer. Er sah ein Wunder. Der Mond war vom Himmel gefallen und schwamm dort draußen. Aber dann schloß er die Augen und schaute nochmal, und durch den blassen Strahlenkranz, der es umgab, sah er ein unglaubliches Schiff. Es war geformt wie eine große Blume aus getriebenem Silber, in deren Mitte sich ein schlanker Silberturm aufreckte in die Nacht; sein Dach glich einem Diadem. Und in dem Turm, gerade unterhalb des Diadems, erstrahlte ein einzelnes, rubinrotes Fenster. Das Schiff hatte weder Segel noch Ruder. Vor seinem Bug war eine Bewegung, ein Glitzern des Sternenlichts auf nasser, uralter Haut, und kräuselnder Schaum: riesige Bestien zogen das Fahrzeug durch die Wellen wie ein Gespann von Streitrossen einen Triumphwagen ziehen würde. Was sie waren – ungeheure Wale oder vielleicht sogar Drachen –, hätte Sivesch nicht sagen können. Er stand und schaute, und während er noch schaute, wendete das Schiff und kam näher zum Land.
Überall um ihn her schien die liebliche, kummervolle Musik zu ertönen. Die gewaltigen Bestien arbeiteten sich mühsam vorwärts, das Schiff glitt ihnen nach. Sivesch lief eine Strecke weit ins Meer, bis die Wellen sich an seinen Knien brachen. Er schaute noch immer: das Fenster öffnete sich weit. Zum Vorschein kam ein Gesicht.
Siveschs Schwäche war seine Liebe für Schönheit. Wie andere Reichtümer liebten oder Vergnügen oder Macht, so liebte er diese. Und daher betete er Asrharn an, und eine Zeitlang Ferashin, die Blüten-Geborene, und daher verehrte er das Licht des Feuers und zuletzt den Herren aller Feuer, die Sonne. So schaute er hinauf in das Gesicht des Mädchens, das sich vom Turm herabneigte, und sie wurde die Summe von alledem.
Nachdem so viel von Schönheit gesprochen wurde, wie ist es möglich, von ihr zu reden? Keine Worte sind mehr übrig auf Erden in irgendeiner Sprache, die dies vermögen. Solche Worte verschwanden von der Welt, als sie in einer kataklysmischen Umwälzung sich freischüttelte vom Ozean des Chaos, die sie in Form einer der Bälle zurückließ, wie kleine Kinder sie beim Spielen in die Luft werfen.
Indes war etwas von Ferashin in ihr und ebenso etwas von Asrharn, und sie schien von ihrem Fenster her wie die Sonne; und wie die Sonne enthüllte sie sich langsam aus ihren Tüchern und ließ Schritt für Schritt den Glanz ihrer silbernen Nacktheit auf Sivesch fallen, die ihn blendete, bis daß er zitterte und seine Lenden sich mit Feuer füllten.
Dann wendete das große Schiff von neuem und begann sich vom Ufer zu entfernen und hinterließ dabei auf dem Wasser einen Widerschein wie einen Weg. Sivesch schrie laut hinter dem Fahrzeug her – er starrte auf den Weg und kämpfte sich hinaus durch die Wellen. Aber die schwere See warf ihn zurück ohne Erbarmen, und ihre Kälte brachte ihn wieder zur Besinnung.
All die langen Stunden der Dunkelheit hindurch stand er am Ufer wie ein Mann in Trance, die Augen an den fernen Horizont geheftet, wo das Schiff wie ein untergehender Stern verschwunden war. Als schließlich die Sonne aufging, hatte er keine Augen für sie. Er lag im Schatten des Felsens und fiel in blinden Schlummer.
Er erwachte bei Sonnenuntergang und hielt die ganze Nacht Ausschau. Zwei Stunden, bevor der Morgen dämmerte, zog das Schiff weit draußen vorbei. Er schrie hinüber, aber es änderte nicht seinen Kurs.
Den nächsten Tag verbrachte er ebenfalls schlafend. Die Hirten suchten ihn gegen Mittag am Strand, aber er bewegte sich nicht, und sie fanden ihn nicht. Sie hatten in der Stadt Gewinn gemacht und hatten Geld, das sie ausgeben wollten. Auf der anderen Seite war der Jüngling seltsam, vielleicht nur halb bei Verstand. Kurze Zeit später gingen sie wieder. Als die Nacht kam, stand Sivesch mit wilden, hungrigen Augen am Ufer und wartete. Diesmal sah er das Schiff nicht, obwohl es vorbeizog, denn er hörte die Musik. Er zitterte vor Freude, als er die Töne hörte, und watete hinaus ins Meer, bis es ihn wieder ärgerlich zurückstieß. Darauf weinte er vor Zorn über die wütende See. Er war nahezu verrückt vor Verlangen.
Aber er war auch behext. Ihm, der gesehen hatte, wie andere mit solchen Zaubern belegt wurden, war keine Urteilskraft belassen, um sich selbst aus der Verzauberung zu befreien, als er davon befallen wurde. Und er, der siebzehn Jahre lang in der Stadt der Dämonen
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