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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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Mädchen war Zoraschads Tochter glücklich genug, wenn auch auf wunderliche Art, wie es ihrer Umgebung und Lebensweise entsprach. Denn das Leben in der Höhle war ruhig, mittelbar und fesselnd, und sie lernte dort ruhige, mittelbare und fesselnde Lektionen: die Kunst der reinen Erdmagie, die der Priester praktizierte. Sie lernte auch, vor welchen Wegen der Zauberei sie sich hüten mußte: Hexenwesen, Geisterbeschwörung, all jene breiten Straßen, denen sich Menschen nur auf die Gefahr hin nähern konnten, ihre geistige Gesundheit, Seele oder ihr Ich selbst aufs Spiel zu setzen; aber sie sah sie nur als eine Reihe schwarzer Eingänge, die für immer geschlossen waren, und hatte kein Verlangen danach, anzuklopfen oder Schlüssel für sie zu finden.
    Während dieser Zeit war sie sich ihrer selbst nicht bewußt, wie es nur ein Wesen sein kann, das sich an außerhalb liegende Dinge verloren hat. Tatsächlich kannte sie sich selbst kaum, sie war ganz Ohr und Auge und Gedanke. Sie hatte niemals in einen Spiegel geblickt, hatte nie ihr zerkratztes Gesicht gesehen; sie hatte nie in maßlosem Abscheu über das vernarbte und entstellte Fleisch geweint, noch mit bitteren Gefühlen die sahneweiche Stirn, die großen Augen und das Kupferhaar bewundert, die ihr widernatürliches Schicksal ihr belassen hatte. Trotz ihrer verkrüppelten Arme war ihr Körper wunderschön; sie beachtete ihn niemals, er stellte wenig Anforderungen. Und obwohl diese Arme, verkrümmt wie Winterbäume, manchmal vor Schmerz nagten und brannten, geriet sie niemals über das Geschick in Zorn, das sie diese Schmerzen erdulden ließ. Ihr kurzes Leben hindurch hatte sie zwar in Abständen gelitten, aber es gab immer den gütigen Priester mit seiner Heilsalbe und den Leoparden, der mit seiner aufgerissenen Seite schlimmer verletzt war als sie. All ihre Tage waren Elemente: Sonne, Schnee, Schatten, Wind, klares Wasser, wehendes Gras, das Sammeln der Kräuter, das Zusammenstellen von Zauberformeln, die friedlichen Stunden der Lektionen. All ihre Nächte waren warme, dunkelrote Kohlen auf dem Herd und goldene Kohlen von sanft glimmenden Tieraugen.
    Manchmal pflegte der Priester auf eine Reise zu gehen und sie nicht mitzunehmen, aber es machte ihr nichts aus. Er ließ sie zurück, damit sie das Heim versah und ein jegliches Tier pflegte, das herkommen mochte. Sie hatte niemals zu einem Menschen gesprochen, ausgenommen den Priester. Er hatte dafür gesorgt, da er wohl wußte, ohne darüber verbittert zu sein, wie das Menschengeschlecht sie behandeln würde. Wenn Männer und Frauen zur Höhle kamen und nach Hilfe verlangten, guckte sie mit dem Fuchs und dem Bär durch den Vorhang, und nur der Priester ging nach draußen. Sie hatte trotz ihrer Mißgestaltung eine Art Unschuld, eine Süße, die einem unverkrüppelten Gehirn und einem offenen Herzen entsprangen. Sie war niemals getadelt, lächerlich gemacht, verhöhnt oder gehaßt worden.
    Eines Tages, sie war eben fünfzehn geworden, war der Priester nicht zu Hause. Er war fortgegangen, um die Ernten der Dörfer zu segnen. Gegen Mittag, als sie in der Höhle Kräuter mischte, hörte sie draußen das Geklapper von Pferdehufen und eilte zu ihrem Versteck, um nach draußen zu sehen. Nie zuvor war jemand gekommen, wenn der Priester nicht da war, denn die Dorfbewohner kannten die Zeiten seiner Abwesenheit, und sie fürchteten sich vor der Höhle und den wilden Bestien. Doch diese Besucher waren von keinem Dorf oder einsamen Gehöft hergereist. Selbst sie, die niemals zuvor solch weltliche Pracht gesehen hatte, wußte es instinktiv, als sie es sah, und sie war voller Ehrfurcht.
    Fünf schneeweiße und fünf ebenholzfarbene Pferde standen draußen und fraßen, und ihre Decken waren aus Gold und Silber. Jedes trug einen Reiter, und alle waren in Seide, Metall und Juwelen gekleidet, die hell strahlten wie der Mond, aber der junge Mann, dessen Pferd vor den anderen stand, erschien ihr wie die Sonne selbst. Sie hätte sich nicht träumen lassen, daß er sprechen würde, vermutlich würde er nur vorbeiziehen, wie es die Sonne tut: sie leuchtet hell, aber sie tritt nicht in Verbindung mit der Welt.
    Als er plötzlich zu rufen anfing, erschreckte es sie, denn es schien zu wirklich.
    »Du da, Eremit«, schrie er spöttisch, »komm heraus und heile uns, denn wir sind krank.«
    Und die ganze Gesellschaft lachte brüllend.
    Zoraschads Tochter starrte ihn durch den Vorhang an und wurde von einer neuen Empfindung ergriffen. Sie erriet

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