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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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erklären könnte. Dies will ich dir geben. Dann sollst du entscheiden, was zu tun ist.«
    So erzählte er ihr alles, denn er wußte alles. Wie er dies Wissen erlangte, ist ungewiß. Vielleicht schloß er die Geschichte vom Klatsch der Dorfbewohner, vom goldenen Fußkettchen, das die Schakale liegengelassen hatten, vom königlichen Gewand, in welches das Kind gewickelt war. Vielleicht entdeckte er sie auf eine andere Art, eine merkwürdige Art … Wie auch immer, er kannte die ganze Geschichte, und bald wußte sie auch alles, von der Zeit, als Zoraschad herrschte, bis zum Erscheinen des Dämonenprinzen, von der Vernichtung des Amuletts bis zu der toten Amme und dem mißgestalteten Säugling.
    Als der Priester geendet hatte, saß sie ein Weilchen still da. Dann sagte sie: »Also ich bin die dreizehnte Tochter eines toten Tyrannen. Was ist aus seiner Stadt Zojad geworden?«
    »Zojad wurde auf seinen Trümmern wieder aufgebaut.«
    »Wer herrscht jetzt an Stelle des Tyrannen?«
    »Ein König. Der Sohn einer der sechzehn Könige, die sich gegen Zoraschad erhoben hatten.«
    »Dieser Königssohn«, sagte sie, »irgend etwas sagt mir, daß der Mann, der heute zu mir gesprochen hat, so einer gewesen ist. Kann er es gewesen sein, der dort regiert?«
    Und der Priester antwortete nicht.
    *
    Sie war nicht mehr dieselbe (wie hätte sie es sein können?), obwohl sie wieder das ruhige und nutzbringende Leben eines Gehilfen aufnahm. Sie sprach nie wieder von ihren Schmerzen, innerlichen oder äußerlichen. Ihre Ungezwungenheit war dahin, und ihre Freude. Ihre Augen waren nun, wenn sie etwas Schönes sah, ein Blatt, ein Tier, den Himmel, voll eines leeren, unerfüllten Hungers. Und es gab auch keine Verehrung oder Staunen mehr in ihrem Gesicht, wenn der Mond wie ein silbernes Omen über dem Land aufging, und wenn die Jahreszeiten ihre verschiedenfarbigen Schleier über die Wälder und Hügel breiteten, sagten sie nur noch: »Es ist Winter geworden« oder »Jetzt haben wir Sommer«, nie mehr. Und noch etwas hatte sich an ihr verändert. Sie hatte begonnen, eine Stoffmaske zu tragen, die ihr ganzes Gesicht außer der lieblichen Stirn und den Augen verbarg, und Handschuhe für ihre verkrüppelten, doch beweglichen Hände.
    Dann starb der alte Priester, und ein Teil von ihr starb mit ihm, ihr wesentlichster Teil, ihr Gefühl von einem Lebenszweck. Er verließ die Welt in Frieden, sie wurde verängstigt in ihr zurückgelassen. Sie weinte an seiner hölzernen Brust und begrub ihn alsbald und stand in untröstlichem Schweigen.
    In den Monaten, die darauf folgten, kamen wenige zu der Höhle, um sich heilen zu lassen, nur Reisende von entlegenen Dörfern, die noch nichts vom Tode des Priesters erfahren hatten. Noch am selben Tage, als sie den Priester begrub, hatte eine Frau mit einem kranken Säugling am Abhang gestanden und nach Hilfe gerufen. Als das merkwürdig maskierte Mädchen mit ihrem glutroten Haar und bleiernem Gang herauskam, lief die Frau ein Stückchen weg und rief: »Nein, nein, nicht du. Wo ist der Priester?«
    »Er ist tot«, sagte das Mädchen, und da sie seine Heilmittel und die Verpflichtung seines Mitleidens, wenn nicht gar das Gefühl selbst geerbt hatte, fügte sie automatisch hinzu: »Ist es das Kind? Ich kann ihm helfen …« Doch die Frau, da sie durch die Maske hindurch und trotz der leisen Stimme alles spürte – die ganze Häßlichkeit und die bittere Lieblosigkeit – machte sie ein Zeichen gegen das Böse und floh. Das war wie eine Wunde, eine neue Wunde in der alten, nicht weil das Mädchen sich gehaßt fühlte, sondern weil sie als Priesterin versagt hatte.
    Eines Tages war sie sechzehn. Es war die Zeit der Herbstwende. Dann kam der Winter.
    Den ganzen Winter hindurch lebte Zoraschads Tochter in der Höhle. Selbst die Tiere kamen nicht zu ihr, sie hatten den Weg vergessen. Nur Verletztsein und Einsamkeit waren ihre Genossen, und eine Art Wut, unbegreiflich und tödlich.
    Jede Nacht lag sie in einer Wiege aus Schwärze, und bald begann ein Wachtraum von ihr Besitz zu ergreifen. Sie sah ihren Vater, Zoraschad, der ganz in schwarzem Metall durch eine riesige Stadt ritt. Die Menschen warfen sich vor ihm voll Furcht auf die Erde, während die Dächer von Palästen und Tempeln von Fackeln erleuchtet waren. Alsbald änderte sich der Traum ganz allmählich ein bißchen. Zuerst ritt sie in einem königlichen Gewand an der Seite ihres Vaters und hielt eine wunderschöne Porzellanmaske vor ihrem eigenen zerstörten

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