Herr der Nacht
die Menschen ab und trugen ihren Teil von Freud und Leid, und Könige ruhten müßig auf ihren seidenen Lagerstätten, und schöne Frauen sahen in ihre Spiegel und seufzten bewundernd. Und im Herzen von alledem war wie der Wurm im Apfel, wie der Käfer im Holz, Zauberei am Werk und saugte das Mark heraus: bald würde der Apfel auseinanderbrechen, der Holzbalken herunterfallen und die Länder in Furcht aufschrecken lassen.
Einige hegten vielleicht Vermutungen: der Jäger, der über den Bäumen des Waldes Lichter flackern sah; die Bettlerin, die eines Tages in der Abenddämmerung an der Höhle des alten Priesters vorbeiging und Zeuge wurde, wie eine vage Rauchgestalt dort hineinrannte und die Form einer merkwürdigen Bestie mit einem Löwenkörper und einem Eulenkopf annahm. Geschichten wurden nun erzählt von der maskierten Hexe in der Höhle, der Zauberin. Sie hatte den Priester getötet, sagten sie, und ihre Freunde seien Dämonen: die kleinen, beinahe widersprüchlichen Dämonen von Unterwelt – die Drin – der Abschaum jener schattenhaften Hierarchie dort unten, die dem Willen mächtiger Zauberer unterlagen, da sie keine wirklichen eigenen Antriebe besaßen. Mit Hilfe dieser Dämonen hatte diese Hexe auf eine höchst entsetzliche Art einen armen Hausierer niedergemetzelt. Was würde sie als nächstes tun?
Selbst in Zojad hatten die Menschen wahrscheinlich von der Hexe gehört. Es ist möglich, daß sie über sie lachten.
Der Hausierer war unbeabsichtigterweise der Katalysator gewesen. Von nun an wurden Zorayas’ Ziele von ihren Träumen bestimmt. Zoraschads Tochter, die Zauberin. Sie dachte an den jungen König mit seiner Peitsche, seiner gehässigen Zunge, dachte daran, daß er im Königsstuhl ihres toten Vaters saß. In ihrem Stuhl. Dieses Unrecht ging tiefer als jedes Unrecht, das sie später erlitten hatte, Verzweiflung oder Vergewaltigung; damit war sie fertig. Was blieb, war der Fluch der Häßlichkeit und der Enterbung.
Eines Nachts im Hochsommer, als der junge König in Zojad an der Tafel saß, begannen die Lichter im Saal dunkel und trübe zu werden, und der gebratene Vogel, den man ihm gerade vorgesetzt hatte, flog mit einem Aufschrei hoch. Er schien mit den Flügeln zu schlagen und seine Augen, die aus zwei gebogenen Quarzstückchen bestanden, waren auf den König gerichtet. Der sprang auf die Füße, und sofort fiel der Vogel zu Boden. Der König, der ängstlich darauf bedacht war, furchtlos zu erscheinen, befahl dem Vorschneider scherzhaft, den Vogel in Portionen aufzuteilen, bevor er ganz und gar davonflöge, aber in dem Augenblick, als das Messer in ihm stak, fiel eine Glaskugel heraus, die über den Tisch rollte und am Boden zerbrach. Und in der Kugel lag eine winzige Schriftrolle.
Der Hof stand staunend vor diesem Wunder, aber der König bückte sich hochmütig, hob die Rolle auf und las folgende Worte: »Was bedeutet eine Narbe mehr, o König? Ich werde es dir sagen. Eine Narbe mehr für mich bedeutet eine Krone weniger für dich.«
Da wurde der König grau wie Staub, denn er erinnerte sich im selben Augenblick, obwohl er sich nicht ganz sicher war, an jenen Tag vor einem Jahr, als er das verkrüppelte Mädchen mit seiner Peitsche ins Gesicht geschlagen hatte. Ein dunkler Schreck überkam ihn. Er witterte Zauberei wie das Kaninchen den Hund wittert.
Doch in dieser Nacht geschah nichts weiter und auch nicht in den nächsten fünf Nächten.
In der siebten Nacht, als der König in seinem Garten unter den Sternen saß, kam eine verschleierte Frau zwischen den Bäumen hervor. Er hielt sie für eine Dienerin, bis sie ganz nahe herankam und in sein Ohr flüsterte.
»Hier bin ich«, sagte sie, nicht mehr und nicht weniger, aber bei den Worten zitterte der König heftig und rief nach seiner Wache. Sie kamen schnell herbeigerannt und fanden den König bebend in seinem Stuhl, und die verschleierte Frau stand neben ihm. »Einen Augenblick«, sagte sie und machte drei oder vier Bewegungen in die Luft mit ihren behandschuhten Händen. Wer könnte sagen, was danach geschah? Es wird erzählt, daß die Wachen in ihren Kettenhemden tot umfielen und blaugesichtige Drin bis an die Zähne bewaffnet und mit Schwertern vom Boden aufsprangen und grinsend umherstanden, bereit, ihrer Zauber-Herrin zu dienen. Dann riß sie ihren Schleier herunter, und auch sie trug eine Rüstung aus schwarzem Eisen, mit Silber ziseliert, eine bizarre, schöne Arbeit, die diese Dämonen für sie angefertigt hatten, und im
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