Herr der Nacht
hatte.
Asrharn lächelte. Wahrscheinlich lächelte so der Winter, wenn er die Blätter auf den Bäumen totbeißt.
»Ein Sterblicher hat mich verflucht«, sagte Asrharn. Und er nahm den Vogel in die Hand und sah ihn an und erkannte das Muster des Gehirns, das ihn ausgebrütet hatte, und kurz darauf den Schädel und den Kopf und das Gesicht, hinter dem das Gehirn lag. Dann küßte Asrharn die eisigen Flügel des Vogels. »Kann sie nicht einsehen«, sagte Asrharn, »daß kein Fluch zu mir zurückkehrt, der ich der Vater aller Flüche bin?« Aber ihr tollkühner Haß gefiel ihm. Er hatte sie zuvor durch andere gestraft, konnte es wieder tun. »Kleiner Vogel«, sagte er, »fehlgeleiteter, kleiner Vogel.«
2
Schesael und Dresaem
In der Zeit als die Erde flach war, drang eine Seele erst ein paar Tage vor der Geburt in den Körper eines Kindes ein. Der Embryo wuchs als Pflanze ohne Gedanken oder Beweggrund in der Gebärmutter heran bis zu dem Augenblick, wo die erwählte Seele unsichtbar in die Schlafgemächer schwebte. Kurz darauf begann das ungeborene, durch die Ankunft seiner Seele erweckte Kind sein Leben zu wittern und schließlich danach zu trachten, geboren zu werden. Manchmal war für das Kind keine Seele bereit. In diesem Fall bedeuteten die Qualen der Wehen nur das Ausstoßen von unbeseelter Materie aus dem Körper, und der geborene Säugling war ohne Leben.
Aber für das Kind in Bisunehs Leib – ein Mädchen, wie der Zauber richtig vorhergesagt hatte – war eine Seele bereit. Eine vollkommene, formlose Seele, die in der Absonderung der nebeligen Gefilde jenseits der Welt reingewachsen worden war, eine Seele halb weiblich, halb männlich, wie es in jenen Tagen alle Seelen waren.
Die Straße der Seele war das Leben. Aber auf der Schwelle aus Rauch, die am Eingang zu jener Durchfahrt lag, stand ein dunkler Schatten mit einem dunklen Schwert und versperrte dieser Seele den Weg, während andere Seelen wie Meteore vorbeischossen.
Die Seele fürchtete sich. Sie wußte nicht, daß einer der Eschva vor ihr stand, wußte noch nicht einmal, warum sie sich fürchtete.
Aber dann schwirrte das Schwert durch die Luft, und die Seele war in zwei Teile gespalten. Sie spürte keinen Schmerz, nur ein verwirrendes Gefühl des Verlusts, das ebenfalls geteilt war. Jeder Teil der Seele war sich getrennt seiner Lage bewußt. Dann wurde die von blinden Kräften vorwärtsgetriebene weibliche Hälfte der Seele in die Pforten warmen, menschlichen Fleisches gestoßen und gezogen, sank dort in rote Dunkelheit und nahm die Form des Embryos an, während ihre Trostlosigkeit mit dem Rest ihrer Erinnerungen, dem Rückstand ihrer Körperlosigkeit, dahinschmolz. Sie schlief.
Der männliche Teil der Seele, der vor Qual herumwirbelte, wurde in die Gebärmutter einer schwarzen Blume gewickelt. Der Eschva stand mit dieser Beute in der Hand am Tor des Lebens und lauschte aufmerksam. Und irgendwo hörte er die beginnende Totenklage einer Frau, die über die Totgeburt ihres Kindes jammerte.
Der Eschva schoß durch den weltlosen Raum auf die Erde. Er eilte durch die Luft und kam auf einer leeren Einöde hervor, auf der dünne Schafe grasten, und dort fand er in der Steinhütte eines Schäfers die weinende Frau auf dem Bett, während der Mann seinen leblosen Sohn in der Korbwiege anstarrte, der ein paar Minuten zuvor tot auf die Welt gekommen war.
Der Eschva stand in der Tür und lächelte.
»Ich muß ihn begraben«, sagte der Mann. »Er wäre ein prächtiger Junge geworden. Sei still, mein Weib, wir können nichts daran ändern.«
Der Eschva lachte – lautlos.
Der Mann schaute beunruhigt, ja wütend, auf.
»Wer wagt es, sich über menschliches Leid lustig zu machen?«
Der Eschva trat in die Hütte. Er strich mit den Fingern über die Augenlider des zornigen Mannes, die daraufhin zufielen. Er atmete die Frau an, die sich von der Köstlichkeit des Atems betäubt zurücklegte. Dann ging der Eschva zu der Wiege, öffnete den Mund des Säuglings und zerdrückte die Blume darinnen. Die männliche Hälfte der Seele wurde in den Körper des Kindes gedrückt wie der Saft einer Frucht, die man zerquetscht.
Der Eschva streute die zerdrückten Blütenblätter der schwarzen Blume über den Körper des Säuglings, der jetzt atmete. Der Säugling begann zu schreien und zu weinen.
Als der Schäfer und seine Frau erstaunt ihre Augen öffneten, flog eine schwarze Taube aus der Hütte.
*
Bisunehs Kind wurde geboren. Wie schön es war! Und es wurde jeden
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