Herr der Nacht
anhalten. Und dann sein Haar, das so hell war, daß es der silbergrauen Rinde von besonderen Bäumen glich, und seine schönen Augen, wie geschmolzene Bronze, die jeden entmutigten, und seine starken, braunen Glieder, geschmeidig wie die eines Leoparden – und er war genauso vernichtend und unberechenbar wie dieser. Zum dritten Mal seufzte die Schäfersfrau. Sie dachte nicht an das Sprichwort dieser Gegend, das besagte: Wenn eine Frau dreimal seufzt, bedeutet das für jemanden ein Unglück. Der Junge starrte vor sich hin wie ein Tier, wachsam für alles oder nichts, bereit, nach Schatten zu springen. Für Dresaem war die Welt ein Dschungel. Er kannte weder Furcht noch Gesetz. Wenn er einem Wesen wehtat, fühlte er die kurze Überraschung eines Bedauerns, aber es hielt niemals an. Seine Gedanken rasten ihm immer davon. Er mußte hierhin oder dahin springen, um mit ihnen Schritt zu halten. Er liebte es, zu kämpfen oder sich zu paaren, einfache, tierische Handlungen. In manchen Nächten stand er mit dem Mond auf und rannte eine lange Strecke über das verbrannte, kahle Land, bis er umfiel. Er hatte schwimmen gelernt wie die Hunde, als er ins Wasser gefallen war. Er hatte nichts gelernt, was ihm nicht ebenso leicht und plötzlich zufiel wie jener Fluß.
Sein war der männliche Teil der gespaltenen Seele, die andere Hälfte, die des Handelns und der Unbeständigkeit, des Schamlosen und Unerschütterlichen, die ohne ausgleichendes weibliches Gegengewicht, das alle anderen Seelen besaßen, diese ungehemmte Überschwenglichkeit hervorbrachte.
Plötzlich ertönte der Alarmruf des großen Widderhorns, das im Dorf nur in dringenden Fällen geblasen wurde.
Die Frau des Schäfers fuhr in die Höhe, blickte aufgeregt umher, bewegte sich jedoch nicht von der Stelle, sondern rief nur ihren Mann. Dresaem jedoch, den der Ruf des Horns, dessen Bedeutung er sich nur vage bewußt war, auf die Beine getrieben hatte, rannte schon dem Dorf zu.
In den Straßen dort gab es zweifellos etwas Neues zu sehen: Hundert Mann in Waffen und glänzender Bronze, Soldaten des Königs und ein herausgeputzter königlicher Ausrufer in Gold und Seide.
Der Ausrufer las von einer Schriftrolle. Er sprach von Gefahr, Königstreue, Tod und Belohnung. Er las den Erlaß des Königs vor: Die zehn tapfersten und stärksten Jünglinge jeder Stadt und der tapferste und stärkste Jüngling jedes Dorfes mußten sogleich mitkommen zu einem bestimmten Berg jenseits der Hauptstadt des Königs, um sich dort einem Drachen zum Kampf zu stellen. Fünfhundert Jünglinge waren bereits umgekommen, aber das tat nichts zur Sache. Die Magier des Königs hatten vorausgesagt, daß letztendlich ein Held kommen und die fürchterliche Bestie besiegen werde. Der sollte dann mit unermeßlichen Reichtümern überhäuft werden. In jedem Fall – und dabei deutete der Ausrufer auf seine bronzene Eskorte – käme es der Heraufbeschwörung einer Katastrophe gleich, wenn die Herausgabe des verlangten Jünglings verweigert würde.
An Dresaem ging das meiste der Rede ungehört vorbei, die Drohung nahm er nicht wahr. Aber er begriff die Worte ›Kampf‹, ›Drache‹, ›Stärke‹. Er war im Begriff, nach vorn zu eilen, als er sich schon von den Männern gepackt fühlte, die ihn wie toll anpriesen: »Dies hier ist der tapferste, ohne Zweifel – tötete im Frühjahr einen Wolf, zerriß ihn mit bloßen Händen – schaut seine Augen an! Wild darauf, zu kämpfen und zu töten.«
Dresaem lachte. Der Hauptmann der Soldaten besah sich die schönen weißen Zähne des Jünglings, seinen kräftigen Körper, seine Löwenaugen. Gewöhnlich waren sie widerspenstig und verängstigt, dieser bildete eine angenehme Abwechslung. Innerhalb von ein paar Minuten waren die Soldaten mit Dresaem abmarschiert. Er lief freiwillig hinter dem Pferd des Ausrufers her. Als der Schäfer und sein Weib die Straße erreichten, hatte sich der Staub schon wieder gelegt, und ihr Sohn war ihnen für immer verloren.
*
Es hatte sich folgendermaßen zugetragen: Der Berg, der sieben Meilen jenseits der Hauptstadt des Königs lag, war beinahe so alt wie die Erde selbst. Ein Kessel flüssiger Lava befand sich in seinem Innern, doch seine Spitze war von Schnee bedeckt. Eines Nachts regte sich der Berg in seinem tausendjährigen Schlaf und weckte durch seine Bewegung ein anderes Wesen, das dort wohnte. Der Drache war ebenfalls alt, nahezu so alt wie der Berg. Er kam aus der Menagerie von abscheulichen, widernatürlichen
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