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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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gleichermaßen eine Art untermenschliche Umwandlung erfahren hatten.
    Die Schreie der Braut waren zu bloßem Wimmern abgeklungen, und die Frauen, die selbst in Tränen aufgelöst waren, führten sie fort. Die Nachbarn, die sich neugierig versammelt hatten, nachdem sie von den Schreien geweckt worden waren, wurden mit Lügen wieder fortgeschickt. Die beiden Väter und die Hochzeitsgäste waren sich in dem Wunsch einig, die abscheuliche Angelegenheit eher geheim zu halten als daran zu denken, Hilfe aus der Stadt zu erbitten. Und dies nicht aus bloßer Furcht. Sie schämten sich dieser Verbindung mit dem Schrecken, fühlten dunkel, sie müsse die Strafe für irgendeine gemeinsam oder von einem einzelnen begangene Sünde sein. Die tote Kreatur luden sie auf einen bedeckten Wagen. Sie zogen Lose, und es traf die beiden starken Söhne des Weinhändlers und die drei starken Söhne des Zimmermanns, den Wagen und seinen Inhalt unter dem Schutz der Dunkelheit zum Stadtrand zu bringen. Dort, zwischen den felsigen Hügeln, kippten sie den verräterischen Schandfleck in eine trockene Schlucht, die selten von Menschen aufgesucht wurde, und warfen, um sicherzugehen, brennendes Stroh hinterher. Es kam ihnen niemals in den Sinn, daß dieses Wesen noch am Leben sein könnte; es bewegte sich nicht, es schien tot zu sein, sein Gestank konnte leicht für Verwesungsgeruch gehalten werden.
    Aber wahrscheinlich konnte etwas derartig von Zauberei Zugerichtetes und Entstelltes nicht sterben.
    Als die fünf Männer heimwärts eilten, hörten sie ein schwaches, widerhallendes, stoßweises Heulen aus den Eingeweiden der Felsen hinter ihnen. Die Zimmermannssöhne starrten die Weinhändlersöhne an. Nein, es war nicht ihre Angelegenheit, der Lärm war nur Donner. Sie versicherten es sich gegenseitig, bis sie es glaubten, und zu dem Zeitpunkt waren die Laute längst in der Ferne verklungen.
    *
    Bisuneh lag eine lange Zeit krank in ihres Vaters Haus. Man befürchtete, daß sie ihren Verstand verloren habe. Sie brachten ihr Blumen, um sie aufzumuntern, und die sanfte Bisuneh riß den Blumen die Köpfe ab. Sie brachten ihr einen Singvogel in einem kleinen Käfig, aber sie öffnete die Tür und ließ ihn frei. Ein Habicht erspähte ihn sofort und griff ihn am Himmel, und als Bisuneh es sah, nickte sie nur, als habe sie nichts anderes erwartet. Sie schnitt ihr wunderschönes Haar ab, sie vergoß keine Träne und sagte kein Wort. Sie bewahrte ihren Haß und ihre Bitterkeit in ihrem Innern und ließ sie anschwellen. Es war ihr nicht bewußt, sondern geschah aus Instinkt.
    Der Arzt flüsterte mit ihrem Vater, dem Gelehrten.
    »Sie darf nicht so weitermachen. Ihr müßt sie wegbringen an einen anderen Ort. Ihr Leib ist gesegnet. Sie erwartet ein Kind, und es ist ihr gleichgültig. Sie wird sterben, und das Kind wird sterben.«
    Bisuneh zog keinen Trost aus der Aussicht auf dieses Kind, dem letzten Überbleibsel, das ihr von ihrem Geliebten geblieben war. Sie war sicher, daß das Kind sterben würde, und sie mit ihm. Sie wußte sehr wohl, wer ihr dieses Leid zugefügt hatte und warum. Sie wurde dünner, während ihr Leib wuchs.
    Eines Nachts war ihr Haß bereit. Sie wußte es und wachte mit diesem Wissen auf. Zum ersten Mal seit Monaten sprach Bisuneh, und die Gewalt ihres Hasses überflutete ihre Worte. Sie tat, was kein Sterblicher zu tun wagte, sie tat es mit der Hoffnung auf den Tod. Sie verfluchte Asrharn. Nachdem es vollbracht war, sank sie erschöpft zurück und wartete bereitwillig auf den Tod, der folgen sollte.
    In jenen Tagen war ein Fluch oder ein Segen wie ein Vogel. Er hatte Flügel und konnte fliegen. Und je mächtiger der Segen oder der Fluch waren, desto stärker waren die Flügel und um so weiter konnte der Vogel fliegen.
    Der Fluch Bisunehs war sehr mächtig, denn alles in ihr, was einst Honig-Süß geheißen hatte, war nun bitter wie Galle. Und der Vogel des Fluches war von einer Farbe, die von Sterblichen – außer mit einem inneren Auge – niemals gesehen wurde: der helleren Farbe des Schmerzes und der dunklen Farbe des Brütens. Er flog unbeirrbar zur Mitte der Welt. Er hatte keine Augen, der Vogel, doch er konnte sehen, und keine Stimme. Er gelangte in die Unterwelt durch Spalten und Ritzen, die kleiner waren als ein Staubkörnchen, doch er war groß genug, daß Asrharn ihn sehen und spüren konnte, nachdem er zwischen den Türmen von Druhim Vanaschta in ein Smaragdfeuer geflogen war und sich auf seiner Schulter niedergelassen

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