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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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Haarfransen. Es konnte doch wohl nicht sein, daß irgendwo jemand die Haut eines Ebers, nur die Brust und Vorderbeine, den schuppigen und stinkenden Schwanz einer riesigen Eidechse, den abgetrennten Kopf eines Wolfes ausgewählt hatte, und diese drei Dinge mit den Stichen eines Zauberspruchs, den Nieten eines Fluchs zusammengefügt hatte?
    Der Zwerg wand sich über die Fensterbrüstung in das Brautgemach. Der Zwerg grinste auf das Liebespaar herab, das noch umschlungen in tiefem Schlaf lag. Er rollte den jungen Mann zur Seite, tastete mit seinen vierschrötigen Drinfingern über den mageren Rumpf und die starken Lenden, beglotzte und beschnüffelte die milchweiße Gestalt des Mädchens, das von Strängen blonden Haars umwunden war. Aber die Dämmerung war nah. Der Drin roch ihre Ankunft, wie das Pferd Feuer riecht. Schnell warf er die gräßlich zusammengestückelte Haut, Asrharns zweites Geschenk, über den Körper des Jünglings. Das erste Geschenk war der Wandteppich an der Ostwand gewesen. Er hatte den alten Mann unbemerkt dahingehend beeinflußt, ihn dort aufzuhängen. Die abscheuliche Haut zuckte, als sie sich festsetzte, schien Leben anzunehmen, fiel dann zurück und bedeckte Bisunehs Bräutigam vollkommen. Nun wand sich ein schimmernder Schwanz, wo die muskulösen Beine gewesen waren, der schmutzige Bauch, die Vorderhufen und der faßförmige Nacken eines Ebers zuckten, wo die Brust des jungen Mannes ruhig geatmet hatte. Das hübsche Gesicht, zufrieden und heiter, war verdrängt von dem grauen, alptraumhaften Kopf eines Wolfes mit heraushängender Zunge und gelben Zähnen.
    Der Drin war verschwunden. Die erste rosige Patina des Lichts erschien am östlichen Horizont. Der Glanz der Morgendämmerung breitete sich über das Haus und floß schließlich durch das westliche Fenster des Brautgemachs.
    Bisuneh öffnete die Augen. Schläfrig nahm sie das sanfte Leuchten vom westlichen Fenster wahr, folgte mit den Augen den Flecken, die es ins Zimmer warf, ein Glänzen hier, ein Glühen da. Schließlich sah sie den Teppich an der östlichen Wand, auf den das Licht vom Fenster fiel. Wie großartig dieser Teppich war, die Wälder mit vielblättrigen Bäumen, die rauschenden Wasserfälle, die so lebensecht waren, daß sie sie beinahe hören konnte. Darüber ein Himmel mit Sonnenuntergang: die müde Sonne ging unter, jene dunklere Sonne des Abends, die man nicht mit der frischen Blässe der Morgendämmerung verwechseln kann.
    Allmählich begann sich Bisunehs halbwachem Verstand etwas Schreckliches aufzudrängen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was es sein mochte, denn sie war glücklich, ruhig, und der Wandteppich war vorzüglich. Dann fiel es ihr ein. An der östlichen Wand ging eine Sonne unter, sie versank – wie in der wundersamen Prophezeiung der Wahrsagerin – im Osten!
    Als Bisuneh sich aufrichtete, suchten ihre Augen natürlich den jungen Mann neben ihr. Und fanden ein Monster.
    Sie schrie, bis die beiden Väter und die verbliebenen Gäste herbeigerannt kamen. Und sie schrie immer noch, als der Rest der Gesellschaft voll Ekel und Entsetzen davorstand, schrie, bis das Wesen auf dem Bett sich rührte und versuchte, ihren Namen zu nennen und grunzte und bellte und sich auf seinen zwei kurzen, dicken, behuften Vorderbeinen vorwärtsziehen wollte, während es seinen Reptilschwanz nutzlos hin und her schlug. Einer der Männer versetzte dem Monster einen Hieb, dann noch einen, und noch einen, bis es regungslos dalag.
    *
    Sie glaubten, daß das Monster durchs Fenster hereingekommen wäre und den Bräutigam verschlungen hätte, und daß es beabsichtigt hätte, als nächstes die Braut zu schänden oder zu verschlingen. Daß sie kein Blut oder sonstige Spuren seines gräßlichen Mahls fanden, vergrößerte bloß ihre schreckliche Furcht. Sie hatten nun zweifach Angst, denn da das Monster tot zu sein schien an den getroffenen Stellen breitete sich sein schwarzes Blut aus – fürchteten sie eine unbekannte Vergeltung aus zweifelhafter Quelle. Denn sicherlich mußte diese Kreatur dämonischen Ursprungs sein. Niemand dachte auch nur einen Augenblick daran, daß es sich um eine Verwandlung handelte, was nicht weiter überraschend ist, denn niemand konnte in ihm irgendeinen Überrest des Jünglings erkennen, der er gewesen war: der schöne und gesunde Sohn des Gelehrten. Und da die fürchterliche Haut in seine eigene gewachsen war und diese in sich aufgenommen hatte, kann man annehmen, daß sein Gehirn und Herz

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