Herr der Nacht
Tag, jedes Jahr schöner. Ein Mädchen, gertenschlank, mit weißer Haut, das blasse Schlüsselblumenhaar ihrer Mutter, doch noch blasser: die Farbe der Geister von Schlüsselblumen, und Augen wie graue Seen zwischen silbernen Binsen.
Wie schön das Mädchen war. Und doch, wie fremdartig! Sie sprach nicht, sie hörte nicht, was man zu ihr sagte; zumindest wollte sie nicht sprechen, wollte nicht hören. Ihre Zunge und ihre Kehle waren gesund, ihre Ohren waren gesund, ebenso die Augen, obwohl sie oft blind zu sein schien, wenn sie schweigend an der Hand der Mutter oder der Großeltern oder von Freunden spazierenging und ins Leere starrte: nicht aus Böswilligkeit, sondern als ob sie wirklich nicht sehen könnte …
Armes Kind, arme Schesael, Bisunehs Tochter. War sie ein Halbidiot oder ein Krüppel? War sie besessen?
»Ich weiß, woher das Übel kam«, sagte Bisuneh teilnahmslos.
Niemand sprach davon. Niemand schalt sie oder versicherte ihr, daß es nicht so sei. Ein paarmal waren Reisende die felsigen Bergstraßen herabgekommen und hatten von merkwürdigem Heulen und Jammern und Rumoren berichtet, das aus einer steilen Schlucht oder tiefen Höhle kam.
»Das Kind lebt, aber es kennt mich nicht«, sagte Bisuneh. »Wenn es älter ist, werde ich einem Priesterinnenorden beitreten. Ich kann mit meinem Dasein nichts anfangen.«
Bisuneh war im Lauf der Jahre immer lebloser und fader geworden. Das Kind dagegen blühte und glänzte. Wenn das Kind sie geliebt hätte, Bisuneh hätte vielleicht von ihren Wunden genesen können, aber die schöne Schesael, die Halbbeseelte, starrte ins Leere und ging schweigend vorbei. Fünfzehn Jahre wartete Bisuneh. An Schesaels Namenstag küßte Bisuneh ihren alten, weinenden Vater zum Abschied, küßte die Stirn des schönen Kindes und ging fort in eine weit entfernte Wüste. Dort verbrachte sie den Rest ihrer Tage in einem steinernen Tempel als kahlgeschorene Priesterin eines strengen und lieblosen Ordens.
Schesael nahm ihre Abreise wahr, ohne irgendeine Regung zu zeigen.
Sie sah dies nur so wie sie alles andere wahrnahm: wie Bewegungen durch einen Wandschirm, wie etwas, das keine Beziehung zu ihr hatte. Sie besaß die weibliche Hälfte der Seele, den Teil, der Passivität und Stockung, Dunkelheit und das Fehlen von Überzeugung bedeutete, und der ohne ausgleichendes männliches Gegengewicht, das alle anderen Seelen besaßen, diese äußerste Trägheit hervorbrachte.
Die Großväter waren beide alt, zwei alte Gelehrte, weltfremd, gramgebeugt. Sie würden nicht mehr lange leben. Vielleicht sollten sie Schesael an einen freundlichen Jüngling verheiraten, der sich nichts daraus machte: immerhin war sie von ungewöhnlicher Schönheit, und manch einer würde sich über ein schweigsames Weib freuen.
*
Drei Länder, hohe Berge und viele Wasser entfernt stand die Steinhütte auf einem Hügel, und die dünnen Schafe zupften an dem widerspenstigen Gras. Die Frau des Schäfers wusch Kleider in einem kleinen Bach. Sie paßte mit einem Auge auf die Schafe auf, mit dem anderen auf den Jungen. Eigentlich sollte er die Schafe hüten, dieser ihr Sohn, aber sie konnte ihm nicht trauen. Irgend etwas mochte ihn stören, und er würde mit einer Art Wut aufspringen und einen Stein in die Luft schleudern. Ohne Grund. Er war von gewalttätiger Natur. Er war leicht erregbar. Er konnte, ohne sich etwas dabei zu denken, einen Schmetterling in der Faust zerdrücken; er hatte eines Tages zwei der kostbaren Schafe getötet, indem er ihre Köpfe mit ungeheurer Kraft zusammengeschlagen hatte. Es geschah nicht aus Grausamkeit, sondern mit einer merkwürdigen Empfindungslosigkeit, eine Art Blindheit. Die Schäfersfrau seufzte. Wer wußte nicht, daß ihr Sohn verwirrt im Geist und gewalttätig war? ›Verrückter Dresaem‹ nannten sie ihn im Dorf. Seit seinem elften Lebensjahr fürchteten sich die Männer vor ihm, und die Frauen rannten davon, wenn er sich näherte. Sie hätten ihn gern umgebracht, die Dorfbewohner, wenn sie ihm in den Rücken hätten fallen können, aber er war zu stark und zu schnell für sie, seine Instinkte waren die eines Fuchses, obwohl sein Geist stumpfsinnig war. Doch sie hätten ihn erschlagen wie einen tollen Hund, wenn sie je die Gelegenheit dazu gehabt hätten, obwohl er erst fünfzehn war und, trotz seiner wilden Art, schön wie ein Märchenprinz.
Die Frau des Schäfers seufzte von neuem, als sie nach ihrem Sohn sah. Im Augenblick war er gerade ruhig, aber es würde nicht lange
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