Herr der zwei Welten
Nein, sie war nicht das Tor!
Er musste also selbst nachsehen. Wenn er erst einmal in diesem Haus wäre, würde er dieses Tor gewiss finden! Es gab einen Weg, da war er sich sicher. Und dann wäre die Rache sein! Die Rache an diesem verfluchten Lichtwesen, das es gewagt hatte, sich ihm entgegen zu stellen! Die ihn draußen gelassen hatte; ihm den Zutritt zu dieser Welt verwehrt hatte!
Er musste also nach Europa und er würde diese Reise noch heute antreten!
*
„Gaston, ich werde sie fragen, ob sie mich heiraten will.“ teilte Eugeñio mit, als er mit Gaston alleine war.
Gaston zog die Augenbrauen hoch.
„Heiraten? Du meinst … Ich glaube nicht, dass die hier so was machen.“
„Hier nicht, aber ich habe gehört, dass im Gelben Land die Menschen so sind wie wir. Weißt du, jetzt wo wir die Chance haben, ganz normal zu leben, jetzt wo wir wieder ganz normale Menschen sind, will ich, dass Julie meine Frau wird. Verstehst du?“
Gaston nickte. „Tja weißt du, nicht dass ich dir dein Glück nicht gönne, aber hast du schon mal daran gedacht, dass diese Welt nicht unsere ist. Vielleicht hat Julie Sehnsucht nach ihrer Familie?“
„Wir haben darüber gesprochen. Julie will hier bleiben.“
„Also sur revoient, du schöne alte Welt!“ Gaston hob die Hand wie zum Gruß.
„Du scheinst nicht so überzeugt zu sein. Verstehst du denn nicht? Endlich haben wir wieder die Chance auf ein ganz normales Leben. Wir sind hier keine Vampire mehr. Wir sind frei!“ strahlte Eugeñio.
Gaston brauste auf. „Frei? Sterblich? Du spanischer Hengst, hast du dich vielleicht mal gefragt, ob ich das überhaupt will? Ich meine, wir hatten ein Leben, das viele Leben dauerte. Und jetzt? Wer sagt dir, dass ich das aufgeben will? – Ich sehe mich schon grauhaarig und an Krücken laufen. Haha!“
Eugeñio blickte Gaston ernst an.
„Du meinst …“
Doch Gaston winkte ab.
„Lass gut sein. Ich sage ja gar nicht, dass ich mein nächtliches Dasein wieder haben will, aber bist du dir sicher, dass wir hier ganz normale Menschen sind? Ich sehe das nicht ganz so.“
„Was meinst du? Wir sitzen hier, im Sonnenlicht und lassen uns den Pelz verbrennen.“
„Ja, ja, und wir essen den ganz normalen Speiseplan durch, den sie hier kochen. Haben keinen Durst auf Blut und, und, und. Ja, ich weiß. Trotzdem.“
Gaston schwieg und sah auf den Boden, als suche er dort nach Antworten. Eugeñio schüttelte den Kopf. Doch dann hob Gaston wieder den Blick und sah ihm in die Augen.
„Denk doch mal nach. Wir können noch immer im Dunkeln sehen, bewegen uns, wenn wir wollen, etwa vierzig Mal so schnell, wie die anderen. Wir riechen Personen und Pflanzen schon aus weiter Entfernung, und wir können noch immer unsere Gedanken lesen. Oder etwa nicht? Meinst du, das ist menschlich?“
Eugeñio antwortete nicht.
„Na komm, deine Kleine wartet schon auf dich. Wir lassen uns einfach überraschen.“ Gaston war aufgestanden und reichte ihm jetzt die Hand.
*
V on nun an verging die Zeit wie im Flug. Ein halbes Jahr war vergangen, seit Eugeñio und Gaston in die Bunte Welt gekommen waren. Dieser Name hatte für die beiden eine doppelte, eine magische Bedeutung. Denn hier hatten sie das Sonnenlicht, und mit ihm standen ihnen alle Farben, die das Universum zu bieten hatte, wieder zur Verfügung. Ihre Begeisterung für all das Neue ließ kaum nach. Eugeñio unternahm mit Julie viele Spaziergänge, er konnte sich an dem Farbenspiel wohl niemals sattsehen! Es war, als wenn er das ganze Land aufsaugen wollte. Julie beobachtete ihn oft unbemerkt. Er war so glücklich hier und auch für sie leuchtete die Welt nun in goldenen Farben. Nicht einen einzigen Tag hatte sie ihre alte Heimat vermisst, nur hin und wieder sandte sie einen Gedanken in Richtung Himmel, mit der Hoffnung, dass Tina wissen würde, dass ihr nichts passiert war. In letzter Zeit wurden sie auf ihren Spaziergängen auch oft von Gaston begleitet. Er hatte seinen Sarkasmus zwar niemals ganz abgelegt, aber auch ihm merkte man an, dass er hier glücklich war. Kurz, nachdem die beiden in die Bunte Welt gekommen waren, hatten Julie und Eugeñio ihre eigene Wohnhöhle bezogen. Ihr Zuhause befand sich nicht weit von TsiTsis Wohnhöhle, und so konnte Julie ihr Wort, das sie den Kindern gegeben hatte, auch einhalten. Auch für Gaston hatten sie eine kleine Höhle gefunden, in der er es sich bequem gemacht hatte. Er hatte Dervits Angebot, Julies alte Schlafstatt zu nutzen, abgelehnt, denn er konnte
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