Herr der zwei Welten
wirklich so groß? Hast du dich deshalb zurückgezogen? Aber lassen wir das jetzt. – Gaston, bitte hilf mir! Ich muss sie finden! Vor einigen Tagen war ich wieder in Deutschland. Ich habe ihre Schwester besucht.“
„Was hast du? Hast …“
„Schweig! Lass mich erzählen. Tina trägt Trauer. Ich habe ihr gesagt, dass ich Julie noch immer suche. Ich habe ihr versprochen, sie zu finden. Doch sie glaubt, dass Julie tot ist. Julies Foto steht in der Vitrine ihres Schrankes. Es ist schwarz gerahmt. – Sie sucht einen Nachmieter für Julies Wohnung. Sie sagte, sie könne nicht ewig ihre Miete zahlen. Ich gab ihr das nötige Geld, um die Wohnung noch eine Weile zu halten.“
Eugeñio konnte sehen, wie schwer es Gaston fiel, jetzt nicht zu lachen. Doch nun donnerte er los:
„Bist du sicher, dass du noch ganz …? Du gabst ihr also die Miete? Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht aus deinem eigenen Mund gehört hätte!“
Eugeñio hob die Hand.
„Warte! Julies Schwester weint. Sie spürt nicht, dass Julie noch lebt. Gaston, du bist der Einzige, außer mir, der weiß, dass sie nicht tot ist. Dass sie lebt! Nur du und ich! Genau deshalb musst du mir helfen. Bitte hilf mir, richtig zu denken.“
Gaston hatte sich wieder seinem Spiegelbild zugewandt. Jetzt, langsam, wie in Zeitlupe, drehte er sich wieder Eugeñio entgegen. Schweigend blickten sich die beiden Vampire in die Augen. Lasen ihre ureigensten Gedanken. Gaston nickte bedächtig.
„Richtig zu denken?- Verdammt, es ist dir wirklich ernst. Und du bittest mich, dir zu helfen? Wie stellst du dir das dann weiter vor? Ich meine, gesetzt den Fall, dass wir sie finden? Willst du sie dann zu einer von uns machen?“
„Nein! Auf keinen Fall! – Aber hilf mir trotzdem.“
Der Franzose starrte Eugeñio an. Einige Sekunde schwieg er. Dann kündigte er ein leises Nicken an.
„Gut, wenn ich kann. Aber ehrlich, ich denke nicht, dass ich dazu in der Lage bin. Wenn nicht einmal du, mit deinen Fähigkeiten ihren Aufenthaltsort ausfindig machen kannst, wie soll ich dann? – Aber eigentlich gibt es das doch gar nicht! Das Ganze ist mehr als nur merkwürdig! Welche Sterbliche ist denn schon in der Lage, sich vor einem wie uns zu verstecken? So groß ist diese Welt doch gar nicht!“
Gastons fein geschnittene Augenbrauen hoben sich fragend. Übrigens eine Angewohnheit die Eugeñio liebte. Gaston wirkte dann noch genau so, wie er ihn vor so vielen Jahren kennengelernt hatte. Aber das war lange her! Gaston war auf den Mahagonitisch gesprungen und hatte sich, die Beine zum Schneidersitz gefaltet, auf die kühle Tischplatte gesetzt. Sein Blick war starr, als er nun Eugeñio musterte. Doch sein Hirn war auf Höchstleistung eingestellt, Eugeñio wusste das. Es arbeitete fieberhaft. Die Gedanken reichten in Fernen, die nie ein Sterblicher auch nur erahnen könnte. Eugeñio nickte. Sein Kopf bewegte sich dabei nur um einige hundertstel Millimeter.
„Ja, genau das meine ich. Das ist es, was ich nicht begreife. Und genau dazu brauche ich deine Hilfe. Ich komme mit meinen Gedanken einfach nicht weiter.“
Diesmal hatte der spanische Vampir seine Lippen nicht bewegt; und doch wurde er verstanden. Es war die Art der Vampire. Es funktionierte ähnlich wie Telepathie. Nur viel besser. War ausgeklügelter. Sie bedurfte der menschlichen Sprache nicht. Dennoch verzichteten sie nur selten darauf. Es war einfacher die alten Gewohnheiten beizubehalten. Trotzdem waren sie, als reine Kinder der Nacht, sehr wohl in der Lage, Gedanken oder auch nur Schwingungen, einfach aus der Luft zu lesen. Vor allem die der Sterblichen waren für sie kein Geheimnis. Wenn sie wollten, dann lagen die geheimsten ihrer Gedanken vor ihnen, wie ein offenes Buch. Die Entfernung spielte dabei keine Rolle.
Genau das war der Grund für Gastons Zweifel. Der Grund, weshalb er nicht daran glaubte, Julie noch finden zu können. Eugeñio wusste das und er konnte es sogar verstehen. Je älter ein Vampir wurde, je größer wurden seine Kräfte. Seine telepathischen Kräfte wuchsen mit jedem Jahr. Es war für den Jüngeren unverständlich, dass Eugeñio nicht in der Lage war, eine sterbliche Frau aufzuspüren. Er konnte es ja selber nicht verstehen. Julie war nicht irgendeine Sterbliche, diese Frau begehrte sein Herz. Aber gerade deshalb mussten ihre Strömungen auf ihn noch viel stärker wirken. Gerade deshalb sollte ihr Aufenthaltsort für ihn kein Geheimnis sein.
Also, weshalb konnte er sie nicht finden? Er
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