Herr der zwei Welten
hatte ihre Gedanken wahrgenommen, damals, als er mit ihr zusammen gewesen war. Jeden Gedanken, jedes Gefühl, das von ihr kam, hatte er in einer Intensität wahrgenommen, dass es eine Wonne war. Damals, als sie an diesem See, in Gefahr gewesen war, hatte er ihren Hilferuf vernommen. Er wusste nicht, ob sie es damals auch nur ahnte, dass er es gewesen war, der ihr zu Hilfe geeilt war. Er hatte damals nicht versucht ihre Gedanken zu lesen; er hatte anderes zu tun gehabt. Zu sehr hatte er sich damals auf den Kerl konzentriert, der es gewagt hatte, Hand an seine Frau zu legen. – Jetzt würde er es wohl nie erfahren. Ein wehmütiger Ausdruck legte sich für Sekunden auf sein Gesicht. Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Aber hatte er nicht damals auch ihren Hilferuf vernommen? An dem Tag, als Julie so plötzlich verschwunden war. Ja, er hatte sie gehört. Sie hatte ihn gerufen. Ihn, den Vampir! Julie hatte nie Angst gehabt, hatte ihn nie gefürchtet. Aber das war ja das Schlimme, dachte Eugeñio. Dass sie nicht einmal gemerkt hätte, wenn er mehr von ihr gewollt hätte als ein Mann. Wenn er statt ihrer Liebe, ihr Blut gewollt hätte.
Jetzt hatte er seine Gedanken wieder abgeschirmt. Diese Gedanken, diese Erinnerungen waren zu eigen. Sie gehörten keinem anderem. Sie gehörten nur ihm!
Seit er dieses Mädchen kannte, hatte er angefangen zu träumen. Ein Vampir - Jahrhunderte alt- und er träumte. Eugeñios Mundwinkel umspielte ein zärtliches Lächeln. Hätte er das jemals geglaubt, wenn ihm das ein anderer erzählt hätte? Sicher nicht! Seit jener längst vergangenen Nacht, die länger als zweihundertsechzig Jahre her war, hatte er nicht mehr geträumt. In jener Nacht hatte ein Anderer ihn zu dem gemacht, was er heute war. Der Vampir!
Aber Vampire träumen nicht. Keine Träume, keine Fantasien! Jedenfalls nicht solche, nicht während er schlief.
Aber er hatte geträumt, hatte Julie und sich in seinen Träumen gesehen. Er hatte sie in seinen Armen gehalten, hatte ihre zarte, duftende Haut auf seiner Haut gespürt. Er hatte ihren Duft eingeatmet und nicht einen einzigen Gedanken an ihr Blut verschwendet. Er hatte von ihrer Liebe geträumt. Ihre Zärtlichkeit hatte sich auf ihn gelegt und ein Körperteil, das seit mehr als zweihundertsechzig Jahren Tod, unbrauchbar gewesen war - war zum Leben erwacht!
Mächtig, stark und pulsierend war es an jenem Tag gewesen. Als er in jener Nacht die Augen öffnete, hatte es sich sogar in seine Hand ergossen. OH, es war ein so köstliches Gefühl gewesen! Welch ein Wunder! Er hatte es nicht zu fassen vermocht. Doch sein Samen war nicht weiß gewesen, nicht so wie bei einem richtigen Mann. Seine Samenflüssigkeit hatte die Farbe von frischem Blut gehabt. Und ein Gefühl der Leere hatte ihn danach übermannt. Was hätte Julie dazu gesagt, hatte er sich gefragt. Aber gleich danach hatte er sich selbst einen Narren gescholten. Diese Frage würde sich niemals stellen. Wenn er Julie jemals in seinen Armen halten würde, dann würde er ihr Blut begehren; es würde sie das Leben kosten. Niemals durfte er ihr so nahe sein. Sein Blutdurst war in jener Nacht extrem stark gewesen. Es hatte also einen wirklichen Blutverlust zur Folge, wenn er dieses menschliche Gefühl der Lust durchlebte. Trotzdem, solange er allein war, solange sie nicht in seinen Armen ihr Leben gefährdete, war dieses Gefühl ein Erlebnis, auf das er nicht mehr verzichten würde.
„Wie soll ich dir also helfen? Sag, wie stellst du dir das vor?“ Gastons Stimme, diesmal musste er Worte gebrauchen, da Eugeñios Geist für ihn verschlossen war, riss den Spanier aus seinen Träumen. Seine schwarzen Augen blickten irritiert.
„Ich muss sie einfach finden! Sie ist in Gefahr. Ich weiß es einfach. Du musst mir helfen, sie zu finden. Gaston, wir müssen sie einfach finden!“
Das war keine richtige Antwort. Eugeñio merkte das selbst. Der Franzose lachte scheppernd.
„Du wiederholst dich heute aber oft.“ Gaston zog seine Nase kraus, die Augenbrauen erhoben und schüttelte, noch immer lachend, den Kopf.
„Der große Fürst der Nacht! – Also gut, wenn du es unbedingt willst. Ich werde dir helfen, wenn ich auch nicht weiß, wie ich das machen soll. Oder auch nur, was du von mir erwartest. Auch wenn ich nichts von all dem verstehe! Man oh Mann! Aber du wirst mir da wohl auch nicht helfen können?! Oder? Nein? Keine Erklärung? Wusste ich es doch! -Aber ehrlich gesagt interessiert mich die Geschichte auch schon selber
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