Herr der zwei Welten
wie in den vergangenen Jahrhunderten, zu verfluchtem Leben erwachen! Ihm allein gehörte sie: die Nacht!
In der anderen Welt war es ebenfalls Tag. Die Gruppe war schon seit Stunden wieder unterwegs. Niemand verstand mehr, weshalb Karon überhaupt noch atmete. Schon längst hätte es vorbei sein müssen! Aber Karon war stark. Er hielt noch immer aus. Die anderen, sie alle waren müde und erschöpft. Die kurze Rast hatte nichts daran geändert. Nur das Atmen des Jungen ließ sie diese Strapazen noch weiter ertragen. Ihre Haut war blass und die Augenringe beinahe schwarz. Die Erschöpfung griff immer härter zu. Kaum noch konnten sie sich auf den Beinen halten. Doch noch wollte sich niemand eine Rast gönnen. Nicht, so lange Karon noch atmete! Sie erwarteten den Abend, dann in der Nacht würde schon allein dieses seltsame Land ihnen eine lange Rast aufzwingen. Doch dass sich das Weitergehen am Morgen dann noch lohnen würde, glaubte niemand mehr. Es wäre ein Unding, wenn Karon auch noch die nächste Nacht überleben würde. Schon seit Tagen zeigte er keinerlei Reaktion mehr. Seine Reflexe waren verschwunden. Er stöhnte ja nicht einmal mehr. Obwohl sein Stöhnen Julie das Herz umgedreht hatte, war es jetzt noch schlimmer! So stumm lag Karon da auf seiner Trage. Seine Augen waren geschlossen und sein Atem kam nur noch flach. Immer öfter lief einer von ihnen ganz nahe neben der Trage, einfach um zu sehen, ob der Junge überhaupt noch lebte. Man war gezwungen, sein Ohr ganz dicht an Karons Mund zu bringen, um diese sachten Atemzüge noch wahrnehmen zu können. Karons Herzschlag war so leise, dass man ihn kaum noch wahrnehmen konnte, wenn man den Kopf auf seiner Brust hatte. Gerade war es wieder so gewesen. Dervit hatte geprüft, ob sein Sohn noch lebte. Als er nickte, setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung. Keuchend schleppten sie sich weiter. Es war heiß und die Hitze machte sie fertig. Zumeist waren ihre Blicke auf den Boden geheftet und jeder hing eigenen Gedanken nach. TsiTsi erging es aber am schlimmsten; schon seit ihrem Aufbruch an diesem Morgen war sie in stumpfes Schweigen verfallen. Sie schien ebenfalls alle Hoffnungen bereits aufgegeben zu haben. TsiTsi schien nur noch zu leben, wenn sie sich prüfend über ihr Kind beugte. Julie hatte diesen Prozess nun schon lange beobachtet und sie wünschte nichts sehnlicher, als dieser kleinen Frau noch einmal Mut zusprechen zu können. Aber es überstieg einfach ihre Kräfte. So überzeugend konnte sie einfach nicht mehr sein, dass dieser Trost nicht genau das Gegenteil erreichen würde. Also schwieg Julie. Sie schwieg und betete. Aber auch das Beten fiel mit jedem Schritt schwerer.
Doch plötzlich blieb TsiTsi wie angewurzelt stehen. Farbe war wieder in ihr Gesicht getreten. Aufgeregt zeigte sie auf etwas, das sich beinahe am Ende ihres Sichtkreises vor ihnen befand.
„Da! Seht doch!“
„Ist das der Dsaidsa-Baum?“ fragte Julie erstaunt. „Ist er es wirklich?“
Julie hatte begriffen. Die Freude übermannte sie und sie gab ihr Kraft.
Julie sprang auf und ab. Die Freude war so groß, sie musste diesem Gefühl einfach Ausdruck verleihen.
„Der Dsaidsa-Baum! Er ist es! Wir haben es geschafft!“
Dervit nickte so heftig, dass man meinen konnte, er wolle mit seinem Kopf eine Wand einschlagen. Die Männer hatten die Trage abgestellt und Kai hatte sich zu Karon gekniet. Zärtlich streichelte er die Stirn des Kindes.
„Da sieh nur!“ sagte er leise. „Wir haben ihn gefunden! Halte durch Kleiner! Wir schaffen es noch!“
Der Dsaidsa-Baum war ein mächtiges Holzgewächs. Sein Grundstamm hatte einen Durchmesser von mindestens acht Metern. Aber bereits in einer Höhe von ungefähr zwei Metern teilte er sich in drei gleichgroße Stämme. Aber selbst diese Stämme hatten, jeder für sich, noch einen gewaltigen Umfang. Bestimmt waren sie an die dreißig Meter hoch, schätzte Julie. Der Mittlere von den Stämmen wuchs kerzengrade in die Höhe, während sich die beiden anderen, seitlich an ihm vorbei drängten. Ganz oben, an der Spitze des Mittleren, hing etwas Dunkelviolettes. Die Dsaidsa-Blüte!
„Aber …“ stammelte TsiTsi schluchzend. „Heilige Morsena! Wir sollen wir denn da rauf kommen?- Nun haben wir diesen ganzen weiten Weg geschafft, und nun das!“
Die kleine tapfere Frau brach nun endgültig in verzweifeltes Weinen aus. Julie ließ ihren Blick fassungslos über den gewaltigen Baum wandern. Es sah wirklich unmöglich aus! Der Stamm war viel zu hoch
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