Herr der zwei Welten
sein Kopf kraftlos zur Seite geneigt.
Mit jedem Meter, den Bernhard auf dem Weg nach oben, zwischen sich und ihnen brachte, sah es mehr aus, als wenn der Junge bereits seit Stunden tot wäre. Immer wieder mussten sie sich sagen, dass sie ja noch seinen leichten Atem gespürt hatten, kurz bevor Bernhard mit dem Aufstieg begonnen hatte. Julie sah sich kurz um. Jeder hier blickte starr nach oben und sandte seine eigenen Gedanken und Gebete mit. TsiTsi rang fortwährend die Hände, während sie kein Auge von dem kletternden Mann nahm. Vermutlich fragte sie sich, ob sie Karon jemals wieder in den Armen halten konnte. Oder würde er dort oben, fern von ihr, seinen letzten Atemzug tun? Julies Herz krampfte sich zusammen, als sie diese Möglichkeit in Betracht zog. Julie sah zu Kai. Auch in seinen Augen stand die Angst. Vermutlich hatte er genauso große Angst um Bernhard wie um den Jungen, dachte Julie. Simonja weinte die ganze Zeit still vor sich hin. Wie aus Stein gemeißelt stand sie da, keiner Bewegung mehr fähig. Auch Dervit erging es da nicht anders. TsiTsi hatte die Hände jetzt zu Fäusten geballt und kaute auf ihren Knöcheln herum, dass sie schon bluteten. Julies Blick wanderte wieder zu dem kletternden Mann mit dem Kind auf dem Rücken. Ihr Herz schien aussetzen zu wollen. Man konnte sehen, welche Mühe es machte, sich an dem glatten Stamm festzuhalten. Dennoch griffen Bernhards geübte Hände nach allem, was ihm Halt versprach. Jetzt war er allerdings an einer Stelle am Stamm angelangt, an der es keinen einzigen Auswuchs gab. Nur seine Zehenspitzen standen noch auf einem derart kleinen Auswuchs, den man von unten nicht einmal mehr als solchen erkannte. Es sah eher so aus, als wenn der Mann in der Luft stand. Mit seiner linken Hand versuchte er, das Seil um den Stamm zu binden. Dazu musste er sich strecken. Plötzlich kippte der Junge zur Seite. Obwohl die, von Dervit angekündigte, Größenverschiebung im Gelben Land nicht stattgefunden hatte und das Gewicht des Kindes deshalb auch nicht zu schwer war, reichte es doch, um Bernhard aus dem Gleichgewicht zu bringen. Verzweifelt versuchte er das Seil zu greifen, als er Meter um Meter nach unten rutschte. Endlich schafften es seine Hände abermals Halt zu finden. Die Gruppe hatte entsetzt den Atem angehalten. Jetzt entlud er sich geräuschvoll. Bernhard hatte prustend und schwitzend innegehalten, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er lächelte. Noch hatte dieser Baum ihn nicht bezwungen! Schweiß bedeckte seinen ganzen Körper, als er den Aufstieg fortsetzte. Es war schwer. Seine Hände zitterten noch immer. Aber er schaffte das Unmögliche! Als sie endlich ganz oben angelangt waren, zitterte er zwar am ganzen Körper, kaum noch dass er seine Hände spürte … Aber vor ihm befand sich die Dsaidsa-Blüte! Nachdem er eine kurze Pause eingelegt hatte, in der er sich überhaupt nicht bewegte, schnallte er Karon von seinem Rücken. Es machte ihm Mühe die Knoten zu lösen, welche die Seile zusammenhielten. Mit einem Bein in der obersten, schmalen Astgabel stehend, legte er den Jungen in die Blüte. Abermals riskierte er einen Absturz, den er unmöglich überleben würde, denn er brauchte beide Hände dazu. Nur durch hohe Konzentration schaffte er es, sein Gleichgewicht zu halten.
Zwar bekam niemand von der Gruppe etwas von diesen Dingen mit, denn Bernhard war schon längst nicht mehr deutlich zu erkennen. Dazu war der Baum viel zu hoch. Dennoch hielten alle genau in dem Moment, in dem Bernhard Karon der mächtigen, violetten Blüte übergab, den Atem an. Es war wie Telekinese.
Die Blüte war tatsächlich wie eine riesige Glocke geformt, nur dass sich die Öffnung am oberen, schmaleren Teil befand. Sie strömte einen seltsamen Duft aus. Bernhard wurde durch ihn an irgendetwas erinnert, ohne dass er sagen konnte, an was. Das Kind hingegen erinnerte ihn an das Märchen von Däumelinchen, wie es da in dieser großen Blüte lag. Aber jetzt kam Bewegung in das Szenarium. Bernhard erschrak! Das Herz blieb ihm fast stehen, als sich die riesigen Blütenblätter über dem Jungen schlossen. Bernhard stöhnte gequält auf.
„Was, wenn sie sich alle geirrt haben? Wenn diese Pflanze nichts anderes ist, als eine große Venusfliegenfalle? Und ich habe sie soeben gefüttert! Was, wenn die Säfte der Blüte Karon bereits verdauen? Gott im Himmel! Bitte lass so etwas nicht zu!“ betete er. Alle Gebete, die er im Laufe seines Lebens einmal gehört hatte, vom Vater unser bis
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