Herr der zwei Welten
erstaunt. Kai sah aus, als hätte er gerade eine schallende Ohrfeige bekommen, fand sie. Aber auch Julie sah beschämt zu Boden. Sie hätten einfach wissen müssen, dachte sie, dass in dieser Welt vieles ganz anders war, als es dem Anschein nach war. Aber irgendwie war es das Gelbe Land selber, dass sie einfach blind für die Andersartigkeit machte. Das Blaue Land war einfach so verschieden von ihrer Welt, dass es dort einfach war, sich darauf einzulassen. Niemand hatte sich dort darüber gewundert, dass Regeln einfach anders waren. Aber hier? Hier kamen sie sich heimisch vor. Aber das war ein Fehler, wie sie es jetzt einsehen mussten. Trotzdem, wie hätten sie mit so etwas rechnen können? Auch im Blauen Land war es nicht unüblich mit Anderen zu reden, ganz gleich, ob man sich nun kannte oder nicht!
Aber eigentlich hätten die erschrockenen Blumen ihr schon zeigen müssen, dass sie sich hier zurückhalten musste. Der Gedanke tat weh; Julie hätte sich gerne hier zuhause gefühlt, aber davon war dieses Land weit entfernt!
Mittlerweile waren sie schon wieder eine ganze Weile gelaufen, als TsiTsi neben ihr etwas murmelte, dass vermutlich ihr galt. Julie wandte den Kopf und blickte sich um. Doch TsiTsi hatte nicht sie gemeint.
„Schaut euch das an!“ rief sie aufgebracht. „Wie lange laufen wir schon?“
Die Gruppe war nun stehen geblieben und alle Gesichter waren fragend auf TsiTsi gerichtet. TsiTsi wies auf ein Gebüsch, das etwas seitlich der Gruppe wuchs. Es war bereits Nacht geworden, Julie konnte das an jedem ihrer Körperteile, am stärksten allerdings in ihren Beinen spüren. Doch die Nächte waren hier nicht so dunkel, wie sie es aus dem Blauen Land kannten, weshalb sie auch noch alles klar erkennen konnten. Zwei Monde, hell und rund, standen an dem dunkelblauen Himmelsgewölbe und spendeten genügend Licht, um zum Beispiel ein Telefonbuch zu lesen. Trotzdem wurden die beiden Monde auch noch von zahllosen Sternen unterstützt.
Aber dennoch konnte niemand etwas sehen, was TsiTsi derart aus der Fassung gebracht haben könnte. Julie sah achselzuckend zu ihr und dann, als keine Erklärung kam, wieder zu dem Fliederbusch, auf den sie zeigte. Was hatte sie nur?
„Ein Fliederbusch. Wir haben doch schon einen Flieder gesehen. Was ist denn daran so …?“
Schlagartig begriff Julie. Dies hier war genau der Fliederbusch, den sie auch schon am Abend gesehen hatten! Genau der Fliederbusch, in welchem sich die beiden Gelbländer versteckt hatten! Obwohl doch schon Stunden seither vergangen waren, befanden sie sich noch immer an dem kleinen Teich, der eigentlich schon Kilometer weit weg sein sollte.
Dervit schüttete den Kopf. Dann kratzte er sich hinterm Ohr.
„Entschuldigt bitte! Ich hätte es wissen müssen. Mein Großvater hat mir von diesem Phänomen berichtet. Ich hatte es nur vergessen, ich dummer Mann. Wir können hier des Nachts nicht reisen. Dies ist eine der Eigentümlichkeiten des Gelben Landes. Kein Fremder ist hier in der Lage des Nachts zu reisen. Man kommt einfach nicht weiter.“
„Was? Ich verstehe nicht!“ fragte TsiTsi.
„Es liegt an den beiden Monden. Sie stehen so in Konstellation zueinander, dass eine Art Magnetfeld entsteht, das nur wenige Schritte weit reicht. Innerhalb dieses Feldes kann man sich frei bewegen, aber man kann es eben nicht verlassen. Nur die Einheimischen haben einen Weg gefunden, dieses Feld zu verlassen. Allen anderen ist es leider nicht möglich. – Wir werden also den Wechsel der Gestirne abwarten müssen.“
Dervit seufzte auf, hob die Achseln und setzte sich ächzend auf das grüne Gras. TsiTsi begann zu weinen.
Julie schüttelte den Kopf, ließ sich dann aber doch einfach fallen. Das Gras fühlte sich gut an: feucht und frisch. Sie war müde, ihre Augenlider wollten sich schon schließen, als sie noch einmal zur Trage schaute.
Es war schon ein Wunder, dachte sie, dass TsiTsi sich so lange hatte beherrschen können. Sie bewunderte die kleine tapfere Frau. Aber nun bahnten die Tränen sich ihren Weg - Julie hörte sie schluchzen. Dervit hielt sie in den Armen und versuchte sie zu trösten, während TsiTsi immer wieder den Kopf ihres Sohnes streichelte. Es tat Julie in der Seele weh, schließlich war alles, was Karon brauchte und was immer knapper wurde: Zeit! Sie war für den kranken Jungen einfach zu kostbar, um vergeudet zu werden. Und nun das! Wie lange dauerte eine Nacht hier? Wie viel Zeit mussten sie jetzt tatenlos warten, ehe sie weiter konnten?
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