Herr des Chaos
jemand am Kragen gepackt. Saidar rauschte durch Nynaeve in Anaiya, und als sie versuchte, die Macht zurückzuhalten - es hatte doch an ihr gelegen und nicht an dem Strom selbst wurde ihr jetzt bewußt - wurde der Strom festgehalten und vereinigte sich mit einem noch stärkeren.
Ehrfurcht machte sich in ihr breit. Sie ertappte sich dabei, wie sie die Gesichter der anderen musterte und sich fragte, ob sie das gleiche fühlten. Sie war ein Teil von etwas, das mehr als nur sie selbst war, größer als sie allein. Das lag nicht nur an der Einen Macht. Gefühle überschlugen sich in ihrem Inneren, Furcht und Hoffnung und Erleichterung, und, ja, Ehrfurcht, stärker als alle anderen Gefühle, und eine innere Ruhe und Gelassenheit, die von den Aes Sedai ausgehen mußte. Und sie wußte nicht zu sagen, welche dieser Gefühle ihre eigenen seien und welche nicht. Eigentlich hätte sie einen kalten Schauer verspüren sollen, und doch fühlte sie eine Nähe zu diesen Frauen, größer als die Nähe zu einer Schwester. Es war, als seien sie alle ein Fleisch und ein Blut. Eine schlaksige Graue namens Aschmanaille lächelte sie warmherzig an, da sie offenbar ihre Gedanken spürte.
Nynaeve stockte der Atem, als ihr auffiel, daß sie nicht mehr wütend war. Der Zorn war verschwunden, vom puren Staunen verschluckt. Und doch, nun, da die Blaue Schwester die Kontrolle über die Macht übernommen hatte, blieb der Strom Saidars durch sie beständig. Ihr Blick fiel auf Nicola, und statt eines schwesterlichen Lächelns las sie in deren Miene nur berechnende Nachdenklichkeit. Zurückschreckend versuchte Nynaeve, sich aus der Verknüpfung zu lösen, aber nichts geschah. Bis Anaiya den Zirkel auflöste, war sie ein Teil davon, ob sie nun wollte oder nicht.
Elayne schloß sich dem Zirkel viel leichter an, nachdem sie das silbrige Armband in eine Tasche ihres Umhangs gesteckt hatte. Kalter Schweiß stand auf Nynaeves Stirn. Was würde geschehen, wenn Elayne sich verknüpft hätte, obgleich sie durch den A'dam bereits mit Moghedien verbunden war? Sie hatte keine Ahnung, was die Frage aber nur noch quälender machte. Nicolas leicht verfinsterter Blick wanderte von Nynaeve zu Elayne. Sicher konnte sie nicht unterscheiden, welche Gefühle zu welcher Frau gehörten, nicht, wenn Nynaeve ihre eigenen Gefühle kaum noch erkennen konnte. Die letzten beiden wurden genauso leicht in den Zirkel einbezogen: Shimoku, eine hübsche Kandori mit dunklen Augen, die ganz kurz vor der Spaltung der Burg zur Aufgenommenen erhoben worden war, und Calindin, eine Frau aus Tarabon mit einer Unzahl dünner schwarzer Zöpfe auf dem Kopf, die schon gut zehn Jahre lang zu den Aufgenommenen gehörte. Eine Frau, die kaum mehr als eine Novizin war, und eine andere, die sich jedes bißchen Wissen mühsam aneignen mußte, aber sie hatten keinerlei Schwierigkeiten, sich mit den anderen zu verknüpfen.
Plötzlich sprach Nicola, und es klang, als schlafe sie beinahe: »Das Löwenschwert der geweihte Speer, sie, die jenseits alles anderen blickt. Drei in dem Boot, und dazu jener, der tot ist und doch lebt. Die große Schlacht ist vorüber, doch die Welt hat noch nicht die letzten Schlachten gesehen. Das Land ist durch die Rückkehr gespalten, und die Wächter sind gleich stark wie die Diener. Die Zukunft steht auf Messers Schneide.«
Anaiya starrte sie verblüfft an. »Wie war das, Kind?«
Nicola blinzelte. »Habe ich etwas gesagt, Aes Sedai?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Ich fühle mich so ... sonderbar.«
»Also, falls Ihr euch übergeben müßt«, sagte Anaiya gefühllos, »bringt es hinter Euch. Die Verknüpfung hat beim ersten Mal die seltsamsten Wirkungen auf manche Frauen. Wir haben keine Zeit, Euren Magen zu besänftigen.« Als wolle sie das unterstreichen, raffte sie den Rock hoch und ging die Straße hinunter. »Bleibt jetzt alle nahe bei mir. Und sagt mir Bescheid, wenn Ihr etwas bemerkt, worum wir uns kümmern müssen.«
Dazu bot sich ihnen reichlich Gelegenheit. Die Menschen drängten sich auf den Straßen, schrien sich gegenseitig zu, was eigentlich geschehen sei, oder sie schrien einfach hysterisch, und Gegenstände bewegten sich von allein. Türen schlugen zu und Fenster auf, ohne daß jemand sie auch nur berührte. Krachen und Splittern war aus den Häusern zu vernehmen, aber die Bewohner standen draußen. Töpfe, Werkzeuge, Steine, alles, was nicht festgemacht war, konnte jeden Moment losfliegen und jemanden treffen. Eine dickliche Köchin im Nachthemd
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