Herr des Chaos
mitgebracht.« Unter seinem abgetragenen Mantel zog er ein in Lumpen gehülltes Bündel hervor, das ein bißchen größer als zwei geballte Männerfäuste war.
Mit gerunzelter Stirn nahm Rand es entgegen, und ihm stockte der Atem, als er die harte Form darin fühlte. Hastig riß er die vielfarbigen Lumpen weg und enthüllte eine handtellergroße Scheibe, eine Scheibe genau wie die auf der roten Flagge über dem Palast, zur Hälfte weiß und zur Hälfte schwarz, das uralte Sinnbild für die Aes Sedai aus der Zeit vor der Zerstörung der Welt. Er ließ seine Finger über die ineinandergefügten Tränen gleiten.
Nur sieben davon waren jemals angefertigt worden, und zwar aus Cuendillar. Siegel am Gefängnis des Dunklen Königs, Siegel, die den Dunklen König von der Welt fernhielten. Er besaß zwei weitere, sorgfältig versteckt Sehr gut behütet. Nichts konnte Cuendillar beschädigen, nicht einmal die Eine Macht! Selbst der hauchdünne Rand einer aus dem Herzstein gefertigten Tasse würde auf Stahl, ja sogar auf Diamant, Kratzer hinterlassen. Und doch waren drei der sieben zerbrochen worden. Er hatte sie zerschmettert liegen sehen. Und er hatte Moiraine beobachtet, wie sie einen dünnen Splitter von einem glatt abgeschnitten hatte. Die Siegel wurden schwächer, und das Licht allein mochte wissen, warum oder wie. Die Scheibe in seinen Händen fühlte sich so hart und glatt an wie Cuendillar, wie eine Mischung aus dem feinsten Porzellan und dem härtesten Stahl, und doch war er sicher, sie würde zerbrechen, ließe er sie auch nur auf die Fliesen zu seinen Füßen fallen.
Drei zerstört. Drei in seinem Besitz. Wo war das siebte? Nur vier Siegel noch standen zwischen der Menschheit und dem Dunklen König. Vier, falls das letzte noch unbeschädigt war. Nur vier standen zwischen der Menschheit und der Letzten Schlacht. Wie gut hielten sie überhaupt noch, so geschwächt, wie sie waren?
Lews Therins Stimme kam mit einemmal donnernd und mächtig zurück: Zerstöre es, zerstöre sie alle, muß sie zerstören, muß muß muß sie alle zerstören und zuschlagen muß schnell zuschlagen muß jetzt zuschlagen zerstöre es zerstöre es zerstöre es...
Rand zitterte, solche Mühe bereitete es ihm, diese Stimme in sich niederzukämpfen, einen klebrigen Nebelhauch in seinem Innern abzustreifen, der wie Spinnweben in ihm zu haften drohte. Seine Muskeln schmerzten, als ringe er mit einem Wesen aus Fleisch und Blut, mit einem Riesen. Eine Handvoll klebrigen Nebels nach der anderen, des Nebels, der Lews Therin war, stopfte er in die tiefsten Ritzen, die dunkelsten Schatten, die er in seinem Verstand finden konnte.
Mit einemmal wurde ihm bewußt, daß er heiser vor sich hin murmelte: »Muß es jetzt zerstören sie alle zerstören es zerstören zerstören zerstören.« Und plötzlich merkte er auch, daß er die Hände hoch über dem Kopf hielt das Siegel dort oben hielt, bereit, es auf den weißen Fliesen zu zerschmettern. Das einzige, was ihn davon abhielt, war Bashere, der auf Zehenspitzen vor ihm stand und mit hochgereckten Armen Rands Arme festhielt.
»Ich weiß zwar nicht, was das ist«, sagte Bashere ruhig, »aber ich glaube, Ihr solltet vielleicht noch warten, bevor Ihr Euch entscheidet, es zu zerschmettern, ja?«
Tumad und die anderen beobachteten Taim nicht mehr, sondern starrten Rand mit weit aufgerissenen Augen an. Sogar die Töchter hatten die Blicke auf ihn gerichtet und sahen ihn besorgt an. Sulin trat einen halben Schritt in Richtung der Männer vor, und Jalani hatte, offenbar völlig unbewußt, eine Hand nach Rand ausgestreckt.
»Nein.« Rand schluckte; seine Kehle brannte. »Ich glaube nicht, daß ich das tun sollte.« Bashere trat langsam zurück, und Rand senkte das Siegel genauso langsam und vorsichtig. Wenn Rand vorher Taim für unerschütterlich gehalten hatte, wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Entsetzen prägte das Gesicht des Mannes. »Wißt Ihr, was das ist, Taim?« fuhr ihn Rand an. »Ihr müßt es wissen, sonst hättet Ihr es mir nicht gebracht. Wo habt Ihr es gefunden? Habt Ihr noch eines? Wißt Ihr, wo sich ein anderes befindet?«
»Nein«, sagte Taim mit unsicherer Stimme. Er sah nicht so aus, als fürchte er sich; eher wie ein Mann, unter dessen Füßen plötzlich eine Felsklippe nachgab und der sich gerade noch auf festen Boden retten konnte. »Das ist das einzige. Ich ... ich habe alle möglichen Gerüchte gehört, seit ich den Aes Sedai entkam. Ungeheuer, die einfach aus der Luft heraus
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