Herr Lehmann
Draußen hockten einige Leute an den Tischen und rührten sich kaum. Auf der Straße war es auch ruhig, die Luft war so drückend und schwül, daß die wenigen Passanten sich vorbeischleppten wie die Unterwasserschnecken. Das wird noch ein übler Abend, dachte Herr Lehmann.
Und so verplätscherte die nächste Stunde. Herr Lehmann trank eine Tasse Tee nach der anderen und aß die vom Tage übriggebliebenen Sandwiches. Er mochte sie am liebsten, wenn sie schon etwas durchgeweicht waren, und das waren sie nach einem langen Tag im Einfall. Sie wurden von Verena gemacht, sie verdiente sich ein kleines Zubrot damit, daß sie für fast alle von Erwins Kneipen die Sandwiches herstellte, und ihm, Herrn Lehmann, zuliebe tat sie für das Einfall immer besonders viel Mayonnaise drauf. Ab und zu kam jemand von draußen herein und holte sich ein Getränk, der Mann am Tresen, der wahrscheinlich Volker hieß, wollte ein neues Kristallweizen ohne Zitrone und ein kleiner Junge Silbergeld für Zigaretten. Herr Lehmann genoß diese Zeit, sie gab ihm Gelegenheit zum Nachdenken. Er träumte ein bißchen von Katrin, der Köchin aus der Markthallenkneipe, und versuchte noch einmal, sich ein gemeinsames Leben mit ihr vorzustellen, aber er kam dabei nicht weit. Es war schwer, sich das Leben mit einer Frau vorzustellen, die sonntags ins Prinzenbad ging und ihn dabei nicht besonders beachtete. Wahrscheinlich findet sie mich blöd, und wer weiß, dachte er, während er die Straße beobachtete, was sie sonst noch für Macken hat, man will es ja gar nicht wissen, dachte er und nahm einen Lappen, um hinter dem Tresen ein bißchen sauberzumachen.
Um neun Uhr kam Erwin, sein Chef, und mit ihm die Hektik.
“Kerle, Kerle, Kerle”, sagte er und machte sich einen Pfefferminztee mit Milch, eine Angewohnheit, die Herrn Lehmann mehr störte als alles andere, und da war noch eine Menge an Erwin, was einen stören konnte. “Kerle, Kerle, Kerle”, wiederholte er und seufzte. Erwin war Schwabe durch und durch und gleichzeitig überzeugter Kreuzberger. Er war schon seit ewig hier und hatte sich über die Jahre ein kleines Kneipenimperium aufgebaut, das von den Yorckbrücken bis ans Schlesische Tor reichte. Neuerdings experimentierte er sogar mit Kneipen in Schöneberg, “aber da läuft das anders”, hatte er Herrn Lehmann einmal gesagt, “da ist das nicht so einfach, da muß manirgendwas bieten”, und das sagte für Herrn Lehmann eigentlich alles über Erwin. Es hieß, er habe vor 15 Jahren als Student mit Hilfe einer kleinen Erbschaft seine erste Kneipe übernommen, es sei das Einfall gewesen, die Kneipe, in der Herr Lehmann jetzt arbeitete, und dann habe er nach und nach mit Hilfe einer geschickt zusammengesuchten Mannschaft von studentischen Hilfskräften die örtliche Gastronomie aufgerollt. Manche munkelten, er sei Millionär, aber sein Lebensstil war der eines Sozialhilfeempfängers. Jetzt sah er sehr mitgenommen aus, unrasiert und mit fettigen Haaren stand er da, schlürfte seinen Pfefferminztee mit Milch, rieb sich die Tränensäcke und sagte: “Kerle, Kerle, Kerle”.
“Erwin”, fragte Herr Lehmann aufmunternd, “was ist los?”
“Frag nicht”, sagte Erwin.
“Was machst du überhaupt hier? Ist Verena krank oder was?”
“Die spinnen alle. Hat Migräne. Verträgt das Wetter nicht. Als ob ich mit ihr Sex haben wollte.”
“Hm”, sagte Herr Lehmann, der mit Verena mal Sex gehabt hatte, vorsichtig. Kann doch sein. Haben viele bei dem Wetter.”
“Und ich? Wer fragt mich, ob ich Migräne habe?” Erwin hielt kurz inne, drehte die Musik lauter und senkte zugleich die Stimme. “Die Leute nehmen zu viele Drogen, das sag ich dir”, sagte er verschwörerisch.
“Verena doch nicht.”
“Hast du eine Ahnung”, sagte Erwin. “Du würdest doch nicht merken, daß einer kokst, wenn’s ihm aus der Nase staubt. Weißt du, was du bist, Herr Lehmann?”
“Also die Kombination aus Duzen und Herr Lehmann sagen ist wirklich das Übelste, was es gibt”, sagte Herr Lehmann, “das gibt’s sonst nur bei Drospa an der Kasse.”
“Du bist ein Fossil. Du gehst auf eine Party und denkst, huch, was sind die alle gut drauf. Du hast ja keine Ahnung, was abgeht. Das ist ja schon niedlich, wie du drauf bist.”
“Komm, Erwin, das ist jetzt aber auch Quatsch.”
“Was ist das überhaupt für Musik, die da läuft? Hast du die eingelegt?”
“Keine Ahnung”, sagte Herr Lehmann, der bis jetzt überhaupt nicht darauf geachtet hatte. Es lief
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