Herr Lehmann
hier unten in einem fensterlosen Raum im Bahnhof Friedrichstraße saß und der Dinge harrte, die da kommen sollten. Hoffentlich, dachte er, fragt sie nicht oben nach, wo ich bleibe, falls sie überhaupt oben ist und ich unten, vielleicht bin ich auch eher oben und sie unten, dachte er, es kam ihm zwar vor, als säße er in einem Keller, aber eigentlich kann man das nicht wissen, dachte er, denn das viele Auf und Ab im Bahnhof Friedrichstraße hatte seine Orientierung durcheinandergebracht.
Er war also schon fast durch gewesen mit dem ganzen Kram, als plötzlich ein Mann in Uniform auf ihn zugekommen war und ihn gefragt hatte, ob er irgend etwas anzumelden hätte. Herr Lehmann hatte Nein, nicht daß ich ” wüßte”, gesagt, und der Uniformierte, ein freundlicher, dicker Mann, hatte “Kommen Sie doch mal mit nach nebenan” gesagt, und dann hatte er Herrn Lehmann die Taschen umdrehen und alles auf den Tisch legen lassen. Die fünfhundert Mark an sich, dachte Herr Lehmann grimmig, wären nicht das Problem gewesen, Geld an sich, dachte er, ist kein Beweis. Bitter war nur, daß diese fünfhundert Mark noch in dem Umschlag gesteckt hatten, den seine Eltern ihm gegeben hatten und auf den seine Oma in ihrer beeindruckenden Sütterlin-Handschrift sowohl den Namen wie auch die Adresse seiner Ostverwandtschaft geschrieben hatte, darunter sogar noch unterstrichen “Ost-Berlin” gesetzt hatte, was in den uniformierten Kreisen, in die Herr Lehmann hier geraten war, sicher ein ganz großer Brüller war.
Für meine Blödheit, dachte Herr Lehmann, sollten sie mich zu zwanzig Jahren Bautzen verknacken, Blödheit, dachte Herr Lehmann, muß bestraft werden, und ich bin blöd, blöd, blöd. Der Uniformierte hatte sich nichts anmerken lassen, hatte nicht etwa schallend gelacht oder so, er hatte nur “Aha, was haben wir denn hier?” gesagt, war verschwunden, war wiedergekommen, hatte Herrn Lehmann in diesen anderen Raum geführt, ihn auf diesen Stuhl gesetzt und die Tür von außen zugemacht. Und da saß er nun. Man sollte, dachte Herr Lehmann in dem Bemühen, eine Strategie zu entwickeln, nicht lange her-umdödeln, man sollte gleich die Wahrheit sagen, dachte er, das entwaffnet, jedenfalls ist es das Einfachste, alles andere wäre noch blöder, dachte Herr Lehmann. Er sorgte sich nicht so sehr darum, in Ketten gelegt und nach Sibirien geschickt zu werden, das ist eher unwahrscheinlich, dachte er, aber die ungeheure Peinlichkeit seiner Lage hier unten bedrückte ihn sehr. Ich bin auf ihren guten Willen angewiesen, dachte er, da muß ich mich blödstellen, und das wird nicht einmal gelogen sein, dachte Herr Lehmann.
Die Tür ging wieder auf und ein anderer Uniformierter kam herein. Er trug eine riesige Schreibmaschine, die er auf dem Tisch abstellte. “Sie bleiben da sitzen”, sagte er, ging wieder hinaus und kam dann mit einigen Blatt Papier, dem Umschlag mit dem Geld und Herrn Lehmanns Ausweispapieren zurück, die er fein säuberlich und parallel zueinander auf den Tisch legte, bevor er sich setzte und Herrn Lehmann ansah.
“Dann wollen wir mal”, sagte er.
“Ja.”
“Was hat es mit diesem Geld auf sich?”
“Das hat mir meine Großmutter gegeben. Ich soll es einer Verwandten bringen, die in Ost … äh …” - Herr Lehmann nahm die letzte Ausfahrt zur Entspannungspolitik “… in der Hauptstadt der DDR wohnt.”
“Das ist dann diese Frau …” - der Beamte tat, als würde er sich jetzt erst damit beschäftigen,” … das kann man ja kaum lesen, wer hat denn das geschrieben?”
“Meine Großmutter.”
“Also Helga Bergner heißt das ja wohl, die ist also Bürgerin der DDR?”
“Ja sicher, ich denke schon.”
“Was soll das heißen, Sie denken schon?”
“Naja, sie wohnt bei Ihnen in der DDR, da wird sie wohl Bürgerin der DDR sein.”
“Werden Sie nicht pampig. Und wie sind Sie mit der Frau verwandt?”
“Sie ist eine Kusine meiner Mutter, glaube ich.”
“Glauben Sie?”
“Ja.”
“Was soll das heißen, glauben Sie?”
“Ich weiß es eigentlich.”
“Und Ihre Großmutter, wie heißt die?”
“Margarete Bick.”
“Und Sie heißen Lehmann?”
“Ja.”
“Und wie hängt das alles zusammen?”
“Naja, also meine Mutter ist eine geborene Bick, und meine Großmutter war eine geborene Schmidt, und eine ihrer Schwestern, glaube ich, hat jemanden geheiratet, der dann wohl Bergner hieß, nehme ich an.”
“Nehmen Sie an?”
“Naja, das wäre die einzige Erklärung. Außer, die Kusine
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