Herr Merse bricht auf
mit dem ungefähren Blick. Mit der vermutlich sehr weichen Haut. Andererseits– wenn er jetzt hinginge, hatte er die Kinder womöglich an der Backe. Er hatte Ferien. Außerdem hasste er das Mädchen mit ihrem iPod. Natascha. Dreimal a. Für den Namen kann sie nichts, Merse. Trotzdem. Rettungsschwimmer im Kopf, alles klar. Sie war eingecremt. Sie glänzte wie eine Speckschwarte. Der Bruder war ihr doch egal. » Der vergessene Bruder«, hätte es heißen müssen.
Er trank einen Schluck Mineralwasser und biss in seine Stulle. Joel. Komischer Name. Sehr modern. Ob die Mutter diesen Namen ausgesucht hatte? Oder hatte ihr Mann sich damit durchgesetzt? Wie sie wohl hieß? Das Mädchen war bestimmt siebzehn. Oder sechzehn. Da konnte die Mutter schon mal wegfahren. Aber wenn die Mutter doch wusste, dass ihre Tochter sich nicht gut um den kleinen Bruder kümmern würde? Was war sie dann für eine Mutter? Wer machte das Essen? Natascha? An der See bekam man schnell Hunger. Aber vielleicht war die Frau auch tatsächlich nur in Westerland. Er war ja gestern schließlich auch in Westerland gewesen. Und kommt nachher mit Essen oder anderem zurück. Wenn sie dann merken würde, dass er sich eingemischt hatte, wäre es ihr vielleicht unangenehm. Als ob er ihr indirekt zeigen wollte, sie erfülle ihre Aufsichtspflicht nicht. Unmöglich wäre das! Andererseits: Wenn sie hören würde, er sei da gewesen, habe aber seinen Auftrag nicht erfüllt und auch nicht geholfen beim Eincremen– vielleicht wäre sie enttäuscht.
Herr Merse blickte in den Himmel. Möglicherweise war es ein größerer Auftrag gewesen, den sie ihm gestern wie nebenbei gab. An dem viel mehr hing, als man auf den ersten Blick erkannte. Ein Auftrag wie ein Eisberg. Wie das Buch von Dagmar. Sie hatte ihn vielleicht indirekt um Mithilfe gebeten, weil sie gestern schon gewusst hatte, dass sie heute wegfahren würde. Sich mit ihrem Mann treffen wahrscheinlich. Wo war der überhaupt? Der vergessene Mann. Vielleicht kam der später, eben heute, erst an! Ja, und sie holt ihn aus Westerland ab. Oder ihr Mann kümmert sich nicht um sie, und sie holt einen Liebhaber ab. Sie wurde bestimmt von allen Seiten angebaggert. So eine wie sie: ja. Gerade weil sie es nicht herausforderte. Weil sie einfach mit ihrem Liebreiz frei in der Welt stand. In die Welt hineinstrahlte. Und einer hatte es geschafft. Ein Besonderer. Den hatte sie zu ihrem Geliebten erwählt. Bei dem war alles anders als mit ihrem Mann. Ihr Mann hatte die modernen Namen durchgesetzt und war ein höherer Bankangestellter, ein Anlageberater, alles bei ihm war praktisch und übersichtlich, und sie hatte sich angepasst. Zwei Kinder gekriegt, mit denen sie dann allein war, weil ihr Mann Geld verdiente, nichts als Geld im Kopf hatte. Und dann war DER BESONDERE gekommen. Groß und breit wie eine wohlgeratene Linde, weich und einfühlsam wie deren sanftgrüne Blätter. Ja. Oder ein Mann wie ein großherziger, gefühlvoller, erfahrener Rettungsschwimmer, zu dem diese Fraufee mit dem unbestimmbaren Blick und dem Lächeln und der Narbe sich hingezogen fühlte. Mit Körper und Seele.
So einer war er, Ingo Merse, nicht. Denn ihm fehlte es an allem.
Er war Sandmann, kein Lindenmann. Sein Blick schweifte über den Strand. Am Wasser vorne lief ein kleines Kind hin und her. Es bückte sich und sammelte Steinchen in seinen roten Plastikeimer. Herr Merse stand ruckhaft auf, ergriff seine teure Sonnencreme und ging zu Joel.
Joel trug jetzt ein helles T-Shirt. Er hatte sich also in Natascha getäuscht ( » Siehste. Erst gucken, dann spucken.«). Das T-Shirt war stellenweise dunkelfleckig von dem Blasentang, der jetzt komplett auf den Wällen ausgelegt war. Gerade beschäftigte sich Joel damit, alle Wälle, die in der Mittagshitze und im Wind austrockneten, mit Wasser zu begießen. Er hatte hierfür nur einen kleinen Kindereimer und musste häufig zum Wasser laufen. Sollte er den Jungen überhaupt ansprechen? Jetzt war doch alles in Ordnung! Allerdings waren weder Arme noch Beine eingecremt, und auf den Unterarmen breitete sich die Röte aus. Herr Merse stellte sich an den Rand des Labyrinths. » Ziemlich kleiner Eimer, nicht?«, sagte er. » Hast du nicht noch was anderes?« Herr Merse fühlte sich unsicher. Wie ein Eindringling, aber Joel lächelte ihn an.
Er lächelt wie sie, dachte Herr Merse gerührt. Aber er hat keine braunen Augen. Eher grünbraune. Der Junge schüttelte den Kopf. » Nee, hab nichts anderes. Hab diesen Eimer
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