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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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auch nur gefunden. Du vielleicht?« In der freudigen Überraschung, dass Joel ihn duzte, ihn ansah und sogar dabeihaben wollte, brachte Herr Merse haspelnd hervor: » Ja– äh nein, oder warte mal. Ich hab so ’ne Tupperdose, wo mein Nachmittagskuchen drin ist.« (O Gott, Tupperdose.) Er zögerte einen Moment und sagte dann: » Wollen wir die aus meinem Strandkorb holen? Ist nicht weit.« Joel nickte.
    Es war alles ganz einfach. Sie gingen nebeneinander auf die 1423 zu. » Warum bist du noch mal gekommen?«, fragte Joel. Herr Merse hielt seine Sonnencreme hoch. » Ich dachte, ich bring dir die Creme. Du warst schon so rot wie ein Krebs. Aber dann hat ja Natascha doch für dich gesorgt.« » Natascha? Nee, das Hemd hab ich mir selbst geholt«, sagte Joel. » Ach so. Na, umso besser«, sagte Herr Merse erstaunt. » Wieso umso besser?«, fragte Joel. Herr Merse wusste nicht, was er antworten sollte. Er sah auf den Jungen herunter. Sie waren am Strandkorb angelangt. » Lass uns den Kuchen einfach aufessen, damit wir die Dose leer kriegen, ok?«, schlug er vor. Was wusste er, wann Joel gegessen, was er zum Frühstück bekommen hatte. » Komm, wir drehen die dicke 1423 weiter in den Schatten.« Joel lachte. » Das ist doch keine Lok!« » Doch! ’ne Korblok!«
    Sie setzten sich nebeneinander. » Wieso umso besser?«, kam Joel auf die Frage von vorhin zurück. » Ach weißt du, ich hab früher auch ’ne Schwester gehabt (spreche ja über sie, als wäre sie gestorben!, dachte er verwirrt), und die hat mir immer gesagt, wo ’s langgeht. Die hätte mich auch eingecremt. Aber so wird man nicht selbständig. Du hast dir selbständig das T-Shirt geholt. Umso besser. Du solltest dir übrigens die Unterarme eincremen, die sind schon rot.« Er reichte Joel die Tube, und der quetschte einen dicken weißen Streifen auf seiner geröteten Haut aus. » Nimm nicht so viel davon, die ist sehr ergiebig«, mahnte Herr Merse ( » Alter Knauser«), nahm Joel ein bisschen davon ab und tupfte sie ihm auf die Schienbeine. Joel verrieb alles gründlich und schweigend. Dann aßen sie den Kuchen aus der Tupperdose.
    » Ich mach immer alles alleine«, sagte Joel. » Spielt Natascha nicht mit dir?« » Ich spiele am liebsten alleine«, sagte Joel. Er stopfte sich den Kuchen in den Mund, und Herr Merse sah, wie hungrig er war. Er schaute auf die Uhr. Mittag war längst vorbei.
    » Was meintest du vorhin mit dem Verlaufen im Labyrinth?«, fragte Joel. » Na, ich dachte, du kennst dich mit Labyrinthen aus«, antwortete Herr Merse. » Du hast doch im Zug auch welche gemalt.« » Konstruiert«, korrigierte ihn Joel ernsthaft. » Ich entwerfe sie. Ich baue sie dann. Ich baue Rätsel in Labyrinthform«, sagte er unbestimmt. » Du baust sie nur? Spielst dann nicht damit?« » Na, ich lasse Autos durchfahren.« » Kennst du nicht die Sage vom Minotaurus?«, fragte Herr Merse. » Nee. Wie geht die?« Herr Merse überlegte etwas. » Ich weiß nicht mehr genau, wie es anfing«, sagte er. » Der Minotaurus war halb Stier, halb Mann. Ein Ungeheuer. Für den musste Dädalus ein Labyrinth bauen– kennst du Dädalus? Den Vater von Ikarus?« Joel zuckte die Achseln. » Also Dädalus war ein sehr geschickter Baumeister. Wie du. Er war mit seinem Sohn Ikarus eingesperrt…« » Warum?« » Also wenn ich alles erkläre, kommen wir nie zum Minotaurus. Die beiden wurden jedenfalls auf einer Insel gefangen gehalten, und Dädalus musste als Sklave immer für andere bauen, aber heimlich fertigte er große Vogelschwingen für sich und Ikarus an. Sie machten Flugübungen im Dunkeln, und eines Tages flohen sie damit. Dädalus hatte Wachs benutzt zum Befestigen der Federn an den Holzgestellen, und leider schwang sich Ikarus zu hoch in die Luft, so dass die Sonnenhitze das Wachs zum Schmelzen brachte und die Federn abfielen. Das leere Holzgestell trug nicht. Ikarus stürzte ins Meer.« Herr Merse dachte an sein gelb-rotes Plastikflugzeug. Joel schwieg auch, und beide sahen aus dem Strandkorb in die parallel anrollenden Wellen.
    » Er fiel schnell, und die Federn schwebten langsam hinter ihm her?«, fragte Joel sinnend. Offenbar konstruierte er die Szene vor seinem inneren Auge. » Ja, stimmt, so war es, und die Federn schwammen dann auf dem Wasser.« » Aber Holz schwimmt doch auch. Warum hat er sich nicht an den Fluggestellen festgehalten? Und gerettet?« Herr Merse staunte. Er hatte im Gegensatz zu Joel das Ende der Sage immer fraglos hingenommen. » Vielleicht war Ikarus

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