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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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Instrument, dann Flöte. Sie spielte es nach solchen Ausführungen demonstrativ vor.
    Es ärgerte Herrn Merse jetzt, wie klein er damals beigegeben hatte. Schafartig ihrer Meinung nachgetrottet war. Natürlich war die Flöte auf den ersten Blick als pastorales Instrument für diese traurige Kindheitsweise geeigneter als das Horn, das konnte man einräumen. Doch hätte er weiterargumentieren müssen! Es gab das wichtigere Klangargument! Er spielte nämlich klagender auf dem Horn, viel klagender als Dagmar auf der Flöte. Vielleicht war das Horn nicht per se klagend, aber er klagte anders als Dagmar. Die Melodie beweint Tristans Schicksal. Sein Vater starb nach der Zeugung und die Mutter bei seiner Geburt. Herr Merse hatte sich als näher dran an Tristan empfunden als Dagmar. Denn seine Eltern waren für ihn zigmal im Leben gestorben. Wenn er zum Beispiel mitbekommen hatte, dass sie nur für andere lebten. Für Ferienkinder. Für Barbara. Fürs Stricken. Nicht » Die vergessene Schwester«, » Der vergessene Sohn« hätte das Kapitel heißen sollen, dachte er.
    Herr Merse übte mit neuer Überzeugung ohne Dagmar-Störung die verschiedenen Phrasen. Keiner klopfte, keiner meckerte. Es war zwölf Uhr, als er absetzte. Er packte die Strandsachen zusammen und ging zufrieden in den schon warmen Sommertag hinaus.
    * * *
    Zuerst verstaute er alles in der 1423 . Legte die ausgeliehenen Bücher unter das Handtuch und cremte sich mit einem dickflüssigen Sonnenschutzmittel mit hohem Lichtschutzfaktor ein. Auf seiner Haut blieben hier und da weiß schimmernde Streifen übrig. Es störte ihn, aber er riskierte eben keinen Sonnenbrand. Er saß eine Weile in der prallen Sonne, bis er unter dem Fettfilm zu schwitzen begann. Als er es vor Hitze nicht mehr aushielt, ging er Schritt für Schritt in die kalte Nordsee. Heute war wenig Brandung. Es blies ein seltener Ostwind. Herr Merse ließ sich treiben. Seine Creme erzeugte Ölschlieren, die sich um ihn in Ringen auflösten. Ein paar blaue Quallen schwebten neben ihm im Wasser. Quallen mit ihren langsamen, eleganten Bewegungen und ihrer Durchsichtigkeit faszinierten ihn. In ihrem Lebensraum, Saugraum, waren sie schön, auf dem Strand bildeten sie unangenehme Gallerthaufen, in die man unversehens hineintrat. Herr Merse stieß nach dem Baden eine Qualle mit dem Fuß Richtung Wasser; sie flog mit Sandspritzern und klatschte schwer auf. Halbtotes Tier, dachte er. Wie geschoren, so verloren. Das passte nicht, aber klang gut, er murmelte es vor sich hin. Ich werde wie Dagmar, dachte er plötzlich. Ich bin Dagmar, und ich verstehe mich nicht, wie ich auch sie nie verstand.
    Die weiße Schmiere war nun abgewaschen. Unter dem Salz begann die Haut zu spannen. Herr Merse schlenderte schräg über den breiten Strand, um eine der Süßwasserduschen nah am Kliffrand aufzusuchen. Gedankenleer stolperte er fast in ein Sand-Kunstwerk hinein. Ein Labyrinth. Der Junge aus dem Zug war dabei, es auszubauen. In den Grundzügen stand es schon. Es war eine ziemlich große Fläche, gut zwei Meter lang an jeder Seite, mit einem asymmetrisch verzweigten System von Gräben und Dämmen bebaut. Der Junge kniete im Sand und war dabei, einige Wälle mit Tang zu verzieren; andere sollten offenbar mit Muscheln besetzt werden, denn Herr Merse sah einen großen Haufen gesammelter Muscheln aufgetürmt neben ihm liegen. » Baust du die auch noch ein?«, fragte er den Jungen.
    Der Junge hob den Kopf. Herr Merse sah das Wiedererkennen in seinen Augen. » Später«, sagte er kurz, stand auf, blickte einen Moment unschlüssig über sein Werk und ging dann an eine kleine Senke, in der viel dunkler Blasentang lag. Er holte einen ganzen Armvoll davon und setzte seine Verzierungen fort. » Wer soll sich denn hier drin verlaufen?«, fragte Herr Merse. » Verlaufen?«, fragte der Junge zurück und sah Herrn Merse aufmerksam an. » Na, in Labyrinthen verläuft man sich doch. Man wird reingeschickt als Aufgabe. Als eine Art Prüfung. Wenn man wieder rausfindet, hat man gewonnen. Wenn nicht…« » Ja, wenn nicht?«, fragte der Junge. » Na, je nachdem, wie man es spielen will«, sagte Herr Merse. Ihm gingen alle möglichen Labyrinth-Geschichten durch den Kopf und verhedderten sich miteinander. » Eben je nachdem.«
    Der Junge belegte weitere Wälle mit Tang. Herr Merse bemerkte, dass er die Verzierungen nicht willkürlich verteilte, sondern dass nur die parallel zum Wasser liegenden Wälle für Tang vorgesehen waren; die anderen

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