Herr Merse bricht auf
gewesen. Wenn er am Wochenende keine Proben hatte, besuchte er Barbara in ihrem Eppendorfer Studentenwohnheim. Sie setzten einfach ihre Kindheit fort. Barbara kam nie nach Detmold, auch nicht zu seinen Vorspielen. Er fuhr zu ihr nach Hamburg, wie er früher zu ihr ins Bett gekrochen war. Als Kinder waren sie samstags und sonntags ins Freibad oder ins Kino gegangen. Jetzt kochten sie zusammen und lasen sich abends vor. Schauten fern. Tranken Wein. Gingen gelegentlich in ein Konzert. Er schlief auf einer Matratze vor ihrem Bett im Studentenwohnheim. Im Dunkeln hatte Barbara Geschichten und Gedichte gemurmelt…
Herr Merse seufzte und nippte am Rotwein. Ohne Vorankündigung hatte sie ihn eines Samstags verbannt und ihn gebeten, bei einer verreisten Kommilitonin zu übernachten. Denn sie hatte Oskar kennengelernt. Herr Merse nickte: So herum hatte es sich abgespielt. Er war zum überflüssigen Bruder geworden. Auf einmal gab es Oskar, den Verbindungsstudenten, zwar ohne Schmisse, aber ein Verbindungsstudent. Der Barbara mitnahm auf Verbindungsfeste. Der ihr Leben veränderte wie später Dagmar seines. » Dich muss ich mir erst mal zurechtschnitzen«, sagte Oskar, und seine große Schwester hatte sich schnitzen lassen. Und das, obwohl sie so gern sang: » Ich bin so, wie ich bin, so nimm mich denn hin, willst andre besitzen, so lass sie dir schnitzen.« Dagmar trällerte es eine Weile auch immerzu. Bei Dagmar hatte es gepasst. Bei Barbara nicht. Oskar schnitzte sie sich hin, so wie er sie brauchte.
Herr Merse hatte immer wieder versucht, mit Barbara über ihre Veränderung zu reden. Aber er wusste schon vorher, dass diese Versuche scheitern würden. Und das lag an ihm, nicht an ihr. Denn er war damals nicht nachdrücklich gewesen. Zwar war er beharrlich: ja. Beharrlichkeit war eine seiner guten Eigenschaften. Er nickte vor sich hin. Er war beharrlich, ohne aber nachdrücklich zu sein. An dieser Stelle verwirrten sich die Gedanken. Nein, er verstand das Orakel nicht.
Ihm fiel ein, dass man zum Orakelverstehen eine Pythia brauchte. Die er nicht hatte. Darum tappte er ratlos zwischen den Möglichkeiten herum. Die vergessene Schwester musste sich ja gar nicht auf ihn und Barbara beziehen. War Natascha gemeint? Dann müsste es aber » Die vergessliche Schwester« heißen. Vielleicht bezog es sich auf die braunhaarige Frau; die fuhr nicht ihren Mann abholen oder ihren Lindengeliebten, sondern zu einer kranken Schwester. Herrn Merse fiel die behinderte Schwester von Brahms ein. Die aber von Brahms nicht vergessen, sondern lebenslang unterstützt wurde. » Die nie vergessene Schwester.« Ach. Diese Vielzahl an Möglichkeiten. Vielleicht sollte er Barbara, die ihn damals vergessen hatte, seinerseits vergessen. Vergeben und vergessen.
Er trank einen weiteren Schluck. Leichter war es mit der leeren linken Seite. Er war leer, war schon immer leer gewesen, das sah er als klaren, wenn auch unerklärlichen Fakt, und er füllte sich auf mit anderem. Mit der Frau aus dem Zug, die er gar nicht kannte. Mit deren Sohn Joel, der ihn gar nichts anging. Er selbst hatte keinen Sohn. Dagmar hatte keine Kinder gewollt. » Später. Jetzt genieße ich mal meine Freiheit.« So war das gewesen. Punkt. Brahms sagte der Tante zufolge einmal: » Ich müsste jetzt einen Sohn haben, der elf Jahre alt ist.« So wie Joel ungefähr. Aber Brahms bekam weder Sohn noch Tochter. Noch Frau. Er hatte nur seine ferne Clara-Geliebte, Schumanns Frau, die zig Kinder hatte. Auf die er manchmal aufpasste und für die er Lieder schrieb. Auch später im Leben hatte Brahms nichts als ziemlich ferne Geliebte, während er, Merse, immerhin eine Frau gehabt hatte. Das hatte er Brahms voraus. Sonst natürlich nichts. Er war ein leerer Lehrer. Brahms dagegen, ohne Frau, ohne Kind, schöpfte beim Spazierengehen Musik aus seinem Saugraum und füllte damit alle Herzen…
Die Gedanken in Herrn Merses Kopf drehten sich. Etwas tauchte auf, anderes unter. Joel. Minotaurus. Wie fing die Sage an? Wieso hatte er mit Ikarus begonnen? Er sollte ihn vorm Ebbeschwimmen warnen, nicht vorm Fliegen. Minotaurus. War das nicht die Geschichte mit der verrückten Königin, die sich in einen Stier verliebte, sich in einer eigens von Dädalus für sie gebauten Kuh versteckte und im Inneren dieser Kuh saß oder vielmehr lag, mit weit geöffneten Beinen lag und dem wild erregten Stier, der naiv auf den Kuh-Täuschungstrick hereingefallen war, entgegenfieberte? Und die es so weit gebracht hatte, dass
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