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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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vom Aufprall betäubt. So hat er auch das Ertrinken nicht mitbekommen.« Sie schwiegen wieder. Herr Merse überlegte, ob er an dieser Stelle auf die Ebbeproblematik überleiten sollte, aber fand es unpassend.
    » Und der Minotaurus?«, fragte Joel. » Ach, ich erzähl später weiter«, sagte Herr Merse. Er fühlte sich plötzlich leer. » Ich geh jetzt zurück.« Joel stand auf. » Bist du morgen wieder hier?« Herr Merse nickte. » Kommt deine Mutter nachher wieder?« Die Frage schoss Herrn Merse unerwartet aus dem Mund. Sein Herz klopfte wie verrückt. » Weiß nicht. Sie hat gesagt, sie kommt in ein paar Tagen wieder. Wir sollen uns vertragen. Tun wir auch.« Damit drehte Joel sich um und ging. Er wirkte klein. Herr Merse atmete aus. In ein paar Tagen erst! Er verfolgte Joel mit den Augen und hatte das Gefühl, mit ihm durch ein dünnes unsichtbares Gummiband verbunden zu sein, das sich immer weiter und weiter dehnte.
    * * *
    An diesem Nachmittag versuchte Herr Merse durch ausgedehntes Üben und Schwimmen, durch Einkaufen, Zubereiten einer indonesischen Gemüsepfanne, Smalltalk mit Neudeckers und schließlich durch Schreiben einer Karte an Barbara ( » Liebe Barbara! Ich genieße Deine Sylt-Wohnung und habe Dich nicht vergessen. Danke, dass ich hier sein kann! Herzlich, Dein Ingo«) das Denken zu bannen, das unablässig um Joels und Nataschas Mutter und ihr Wegfahren kreiste. Es waren Kraftakte, die nicht immer gelangen; jede Mußeminute wurde zum Einfallstor von Phantasien. Nach dem Abendessen ging Herr Merse mit einer Decke und einer Flasche Rotwein zum Strand und setzte sich in die 1423 . Die Lok. Er zwang sich, nicht zu dem 50er Strandkorbfeld hinüberzuschauen, sich nicht noch weiter hineinzuhängen. Er hing ja schon. Er spürte das Gummiband.
    Alkohol verstärkte die Wirkung seiner Tabletten, und Herr Merse hatte deswegen in den letzten Jahren höchstens mal ein Bier getrunken. Aber er nahm ja jetzt weniger ein. Wenn auch nur wenig weniger. Er wollte jetzt unbedingt die Dosis weiter reduzieren. Nicht mehr zwei ganze Tage verstreichen lassen, bis er etwas änderte. Schluss mit dem lahmen Schleichen. Nein. Entweder am Abend nur noch eine und ein Drittel oder heute doch noch mal eine und eine halbe und morgen nur noch eine halbe statt einer ganzen? Ja, das erschien ihm besser. Er war zu faul auszurechnen, wie lang dieses Ausschleichen dann noch dauern würde. Seine Hoffnung war, tablettenfrei vor Nataschas und Joels Mutter zu stehen, wenn sie wiederkam. Ohne Haube. Ohne Scheuklappen. In ein paar Tagen. Auf jeden Fall meinte er die Dosis doch schon so reduziert zu haben, dass er heute Abend etwas trinken konnte. In seiner Lage.
    Es schaute in den taghellen Abend. Juni und Juli– die hellen Monate. Die Sonne stand noch hoch im Westen und fiel schräg in seinen Strandkorb. Er schaute zwischen den anderen Körben hindurch auf das blausilberne Gewoge, das jetzt kaum brandete, und sog die Salzluft ein. Rufe, Gesprächsfetzen zogen durch die Luft, eines der Propellerflugzeuge für Touristen brummte von ferne. Der Wind, das leise Wellenrauschen, der Sand dämpften alles angenehm ab. In die brodelnde innere Unruhe hinein, die er den ganzen Nachmittag einzudämmen versucht hatte, trank Herr Merse nun in kleinen Schlucken vom Rotwein und war erleichtert über die Entspannung, die sich mit der roten Flüssigkeit in ihm ausbreitete.
    Es blieb genug Unklares übrig. Alkoholgedimmt stiegen die drei Orakel vom Vormittag wie Blasen aus einem dicken Gebräu in ihm auf: die » Leere Seite«, die » Vergessene Schwester« und der » Saugraum der Stille«. Was bedeuteten sie? Was hatten sie mit den Ereignissen des Tages zu tun? Er brauchte klare Handlungsanweisungen. Er hatte Barbara eine Karte geschrieben, denn er hatte das » Vergessensorakel« als erhobenen Zeigefinger interpretiert: » Vergiss deine Schwester nicht!« Hatte er denn Barbara jemals in seinem Leben vergessen? Ja, in der Zeit mit Dagmar hatte sich der Kontakt ausgedünnt. Aber das hatte doch schon vor Dagmar begonnen? Wer war schuld? Er hörte die dicke Schneiderin mit ihrer Frage. Seit Oskar? Er mochte Oskar nicht. Von Anfang an hatten er und Oskar einander konsequent abgelehnt. Ja, seitdem Oskar in Barbaras Leben getreten war, hatte sich alles zwischen Barbara und ihm geändert. Herr Merse war damals als Student zwischen Detmold und Hamburg hin- und hergependelt. Barbara war nach ihrem Auszug in Hamburg geblieben. Ingo war in Detmold, bevor Dagmar kam, einsam

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