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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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weiter zum Bäcker und im Laufschritt mit den Brötchen zur Wohnung zurück.
    Zufrieden schnaufend stellte er sich unter die Dusche. Dabei berührte er mit seiner feucht geschwitzten Haut den Duschvorhang, der an ihm kleben blieb. Er hasste den Duschvorhang in Barbaras Wohnung. Er war beige mit grünen, stilisierten Fischen, die zackig-dreieckige Schwänze hatten, und erinnerte ihn an den im Film » Psycho«, wo man sah, wie Blut dick und dunkelrot von der Dusche aus den Fliesenfußboden entlanglief und sich zu einer Lache ausbreitete. Er wusste nicht mehr, wer dort ermordet wurde, aber er erinnerte sich an das entsetzte Gesicht von Anthony Perkins, von dem er fand, dass er ihm etwas ähnlich sehe ( » Das möchtest du wohl!«). Hatte Perkins auf das Blut geschaut? Oder selber geblutet? Oder die Mutter? Aber das konnte nicht sein, denn saß die nicht tot im Schaukelstuhl? Vor seinem inneren Auge schaukelte eine tote, mumienhaft ausgetrocknete alte Frau mit glanzlosem, verschliertem Blick hin und her. Das Bild rührte in Herrn Merse ähnliche Gefühle auf wie die Zeilen » Ein Knie geht einsam durch die Welt / Es ist ein Knie, sonst nichts«, mit dem ihm Barbara früher Angst gemacht hatte. Er war oft zu ihr ins Bett gekrochen, um nicht allein zu sein. Sie spulte dann endlos Geschichten, Gedichte und Märchen aus sich hervor, und es war heimelig. Andere Male aber raunte sie mit rauchig erregter Stimme leise an seinem Ohr Verstörendes wie: » Verdaustig war’s, und glasse Wieben / rotterten gorkicht im Gemank…«, bis er schrie und schrie…
    Herr Merse goss sich etwas zu heftig Tee in den Becher mit rotem Leuchtturm auf der einen und dem Namenszug »Ingo« auf der anderen Seite. Ein Geschenk von Barbara. Er wischte die Tropfen schnell vom Tisch. Und jetzt tatsächlich nur eine halbe Morgentablette? Nein, besser zwei volle Tage nach jeder Veränderung verstreichen lassen. Er war beim Duschen abgedriftet. Da war was hochgekommen. Da schluckte er doch lieber wie gehabt die ganze Tablette. Und am Abend die gestrige Dosis von einer Tablette plus zwei Dritteln. Das wäre Ausschleichen.
    Wie den Tag fortsetzen? Das Buch? Oder gleich üben oder erst mal ausgiebig in die Zeitung gucken? Herr Merse verspürte Leere. Bevor sie sich wie die Blutlache auf dem Badezimmerboden in ihm ausbreiten konnte, griff er zur Zeitung. Grübeln tat nicht gut, dagegen half die Zeitung. Üben konnte er noch nicht, denn bei diesem Regen würden viele Leute länger im Haus bleiben, und die wollte er nicht stören ( » mit deinem Getröte«). Zu dem Mann ohne Eigenschaften hatte er keine Lust. Er ärgerte sich inzwischen, dass er das Buch überhaupt mitgenommen hatte. Ohne Eigenschaften. Gab es das, einen Menschen ohne Eigenschaften? War sicher von Musil provokant gemeint. Wahrscheinlich hatte der Mann ohne Eigenschaften in Wahrheit sehr viele Eigenschaften, die aber für andere unsichtbar blieben, weil er sie nicht zeigte. Oder die ihm durch einen Schicksalsschlag abhandengekommen waren– aber gab es so etwas überhaupt?
    Vielleicht war es Musils Eigenart, den Leser auf eine falsche Fährte zu führen. »Eigenschaften«– das hörte sich neutraler an als »Eigenarten«. Eigenarten– das spielte ja schon ins Negative. Eigenarten von Dirigenten zum Beispiel, von Sängern. Da konnte er einiges anführen. Er hatte von einer Sängerin gehört, die darauf bestand, dass vor ihrem Auftritt der Weg vom Künstlerzimmer zu ihrem Platz auf der Bühne feucht aufgewischt wurde. Das war eigenartig. Eigenschaften waren positiv: Treue. Fleiß. Wahrhaftigkeit. Zurückhaltung. Ausdrucksstärke. Er selbst würde sich als fleißig, zurückhaltend, treu, wahrhaftig, aber nicht unbedingt als ausdrucksstark bezeichnen. Als Mann mit Ausdruckswillen. »Mann mit Ausdruckswillen« klang ja schon anders als »Mann ohne Eigenschaften«. Ausdrucksstark war er allerdings nur mit dem Horn. Er seufzte. Und nur in Sternstunden. Nie ohne Horn. Keinesfalls im Gespräch. Er war schweigsam. Er war langsam. Fad. Er dackelte hinter den Ereignissen her, jetzt hier auf Sylt dackelte er seinen Tagesablauf ab. Lag es an den Tabletten? Manchmal verlor Herr Merse jede Erinnerung daran, wie es mit Dagmar in Wirklichkeit gewesen war. Und wie er vor Dagmar gewesen war. Alles verlor sich im Ungefähren. Klar und deutlich blieb nur ihre Stimme. Ja. Er trug Dagmar im Ohr.
    Er starrte aus dem Fenster. Hinten auf dem von Feldsteinwällen eingefassten Fußballplatz liefen Kinder hin und her.
    Herr

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