Herr Merse bricht auf
Merse erinnerte sich an die Szene, als er Dagmar zum ersten Mal gesehen hatte. Das war auf einem Tag der Hausmusik an seiner Schule gewesen, am Ende der elften Klasse. Den ersten Teil des Programms hatten Solostücke gebildet. Ganz junge Geigerinnen spielten Rieding und Vivaldi, am Klavier begleitet von ihren Müttern oder großen Schwestern. Dann sah und hörte man pubertierende Pianisten, die selbst komponierte Stücke rauschhaft laut vorspielten. Ingo hatte diese Jungen bewundert, wie sie beide Hände die Tastatur auf und ab schickten, die Augen schlossen, die Köpfe zurücklegten und sich hinterher mit abwesendem Blick kurz und ruckhaft verbeugten. Wie sie sich darboten! Und dann war Dagmar auf die Bühne getreten, die neue Schülerin. Klein und pummelig stand sie mit ihrer Flöte ganz allein da und begann das Solostück » Syrinx« von Débussy. Selbstsicher, die Flöte an ihren vollen Lippen wie festgewachsen; mit tanzenden, geschmeidigen Bewegungen und warmen Tönen zauberte sie die Geschichte vor sein inneres Auge, die seine Klasse gerade am Tag zuvor im Lateinunterricht durchgenommen hatte: Wie Pan als lüsterner Faun sich der Nymphe Syrinx nähert, wie sie vor ihm zum nahen Gewässer flieht und wie sie, als er sie packen, küssen, vergewaltigen will, sich in höchster Not in ein Schilfrohr verwandelt, so dass sein suchend vorgestreckter Mund unvermutet am Schilfstängel landet und ihm überraschend Flötentöne entlockt. Wie Pan dumm dastand– ein frustriert flötender Faun ohne Frau, ohne Sex, ohne alles.
Ingo hatte damals gebannt zugehört, wie Dagmar die Szene musikalisch ausmalte. Ohne Hemmungen. Vielleicht kannte sie die Geschichte der Nymphe gar nicht. Er wurde jedenfalls seit dem Tag der Hausmusik ihre Erscheinung nicht mehr los. Bald danach trat sie ins Schulorchester ein, und auf der ersten Orchesterfahrt kamen sie im Bus nebeneinander zu sitzen; Ingo Schwan, weil er keinen Freund hatte, Dagmar Merse, weil sie neu war. Sie brachten nur ein stockendes Gespräch zustande, das nach der Fahrt keine Fortsetzung erfuhr. Ingo war zu schüchtern. Obwohl Dagmar figürlich nichts von einer Nymphe an sich hatte, verband er die Faunszene vom ersten Moment an mit ihr. Er verschmolz Syrinx und Dagmar zu einer Figur. Zu seiner Geliebten, die er Darinx nannte. Sie hatte Dagmars Körper und seine, Ingos, Seele. Die Gefühle für sie veränderten sein Leben. Er weckte sich morgens eine Dreiviertelstunde früher als nötig, um zu tagträumen. Vor ihm floh Darinx nicht. Sie erwartete ihn am schilfbestandenen Ufer. In Hunderten Bildern malte sich Ingo aus, was sie für Bikinis oder Badeanzüge oder seidige, dünne Kleider anhatte, wie sie auf ihn zutrat, ihm durch Gesten andeutete, dass er ihr die Kleidung herunterziehen solle, wie er das tat, wie sie sich im warmen Sand nackt auf flauschigen großen Handtüchern aalten, wie sie es ersehnte, dass er sich ihr näherte, sie küsste, ihre weiche Haut mit Händen und Lippen selbstvergessen streichelte, wie sie auf, wie sie unter ihm lag, wie sie seinen stramm abstehenden Schwanz bewunderte, zu dem er bis dahin ein ambivalentes Verhältnis gehabt hatte aus Angst, durch eine Erektion aufzufallen; wie sie daran mit ihren Händen und ihrem Mund liebkosend auf und ab fuhr, wie sie sich mal stehend an einem Baum, mal liegend auf dem Rasen, mal huckepack im Wasser liebten und nicht ablassen konnten voneinander. In diesen Tagträumen war sie ihm dankbar, dass er immer konnte, war immer bereit, immer offen und feucht und weich, war nur für ihn da, ließ alles mit sich machen.
Da er nicht wusste, was man so alles machen konnte, phantasierte er sich später den Faun hinzu; der lobte ihn von Mann zu Mann, gönnte ihm Darinx, bewunderte ihren Körper und gab ihm als erfahrener alter Liebhaber Tipps. Zum Beispiel wie er durch langsames Zungenspiel die Liebesantwort ihrer Brustwarzen erleben konnte, die sich in seinem Mund aufrichteten, was ihn bis zum Wahnsinn erregte und Darinx auch. Denn was ihn erregte, erregte auch sie. Alles, was Ingo je gehört, in Filmen gesehen, in Romanen gelesen, aus Gesprächen aufgeschnappt, auf Pornoseiten angeschaut hatte, probierte er am Schilfufer unter Anleitung des Fauns aus. Auch Darinx akzeptierte die Gegenwart des Fauns, sie liebte es, sich ihm nackt zu zeigen und bewundert, aber nicht bedrängt zu werden. Ohne den Faun war es für beide nicht so erfüllend. Mit ihm ideal. Jeden Morgen war er » am Ufer«, wie er es für sich nannte, bei
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