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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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der Hornkoffer bebte in seiner Hand. Vor Erschöpfung, versuchte er sich zu sagen. Nicht vor Angst. Vor Aufregung? Das Handy klingelte. Barbara. Herr Merse nahm den Anruf an, wartete aber nicht, bis Barbara sprach und ihre Vorwurfspfeile abschoss, sondern ratterte wie abgespult: » Ich fahre nach Haus und wünsche euch noch einen schönen Urlaub. Für Oskar gute Besserung und bis bald. Entschuldige, aber ich hab jetzt keinen Saft mehr auf dem Handy.« Dann drückte er auf den roten Knopf und stellte das Handy auf lautlos.
    Der nächste Zug nach Hamburg fuhr in drei Stunden. Herr Merse verstaute das Horn in einem weiteren Schließfach und ging durch die Einkaufszone zur Strandpromenade. Am Meer wollte er Abschied nehmen von Sylt.
    Schon von Weitem sah er die Wellen mit ihren weißen Gischtwülsten unbekümmert auf das Strandtreiben zurollen. Die Natur bleibt sich immer gleich, dachte er. Sie nimmt nicht Anteil. Wir sind ein Teil von ihr. Wir sind auch Natur, aber wir sind nicht gleichmütig. Wir nicht. Je näher er kam, desto drängeliger umgaben ihn die vielen Menschen. Herr Merse fühlte sich fremd zwischen den Sonnenbrillenträgern, Eisessern und den ölglänzenden Schultern. Die Strandpromenade war brechend voll von Menschen in Badekleidung. Es störte ihn nicht. Er trug sein dunkelblaues Polohemd, das vermutlich etwas stank, unten schlackerte die zerknitterte Hose. Er zog die dunklen Socken aus und stopfte sie in die Hosentaschen. Die Schuhe nahm er in die Hand.
    Auf der Treppe zum Strand wurde er an einer mit Plakaten vollgeklebten Holzbude aufgefordert, seine Kurkarte vorzuzeigen. Er zog sie aus dem Portemonnaie und hielt sie dem Mann hin. Sie galt nur für Wenningstedt. » Wollen Sie eine Tageskarte?« Herr Merse sah den kräftigen jungen Mann mit dem weißen Baseballkäppi an. Er war braun gebrannt und tätowiert.
    Plötzlich brandete in Herrn Merse etwas auf. Er versuchte es zu bezähmen und fragte so höflich wie möglich: » Gibt es auch Stundenkarten? So für ein bis zwei Stunden?« » Nein, nur Tageskarten.« » Bei Skipässen gibt es auch Stundenkarten«, behauptete Herr Merse. In ihm stieg die Wut, eine schäumende, mit Macht heruntergepresste Wut. » Das ist hier doch egal.« Der junge Mann erhob die Stimme. » Was haben wir denn hier mit Skipässen zu tun? Sie hören doch: Entweder Sie kaufen eine Tageskarte oder…« Hinter Herrn Merse war eine kleine Schlange entstanden. » Was kostet sie?«, fragte er erstickt. » Fünf Euro.« Herr Merse holte das Geld aus dem Portemonnaie. Der Schein flatterte im Wind. Er ließ ihn los, knapp bevor der Mann zugreifen konnte. Fluchend bückte der sich nach dem Schein, erhaschte ihn gerade noch. Von hinten schwollen die Stimmen an.
    Herr Merse erhielt seine Tageskarte und betrat mit knirschenden Zähnen den Strand. » Fünf Euro. Noch nicht mal ein Stehplatz für Studenten im Theater. ’ne herabgesetzte Kinokarte. Breitwand: das Meer.« Er sprach laut, die Leute drehten sich nach ihm um. Er merkte es nicht. Wieder eine Demütigung eingesteckt! Einmal ein Fass aufmachen! Aber ein großes! Dass einmal alles herauskäme! Spritzte! Aus seinem Mund löste sich ein Röcheln. Er röchelte vor Wut, war aber so schwach, dass er nicht brüllen konnte. » Leisebrüller«, sagte er verächtlich. Er kickte mit dem nackten Fuß in den Sand vor sich. Der Sand spritzte auf, seine Zehen schmerzten. Ein Ball rollte in seine Richtung, und er schoss ihn mit aller Kraft ins Leere.
    Hier in Westerland standen die Strandkörbe dicht an dicht. Er hatte Lust, auf sie zuzurennen und einen nach dem anderen umzukippen. Mit aller Macht. Einen nach dem anderen. Stierhaft. Wie Ajax! Ha! Unter jedem Korb läge dann ein wuselnder Haufen Fleisch: Kindfleisch, Mannfleisch, Fraufleisch. Er hörte eine Symphonie von Stimmen und Brüllen und Rufen und Fluchen. Die Stimmen kamen aus den liegenden Strandkörben und verdichteten sich zu einem chaotischen Lamento. Wie im Comic sah er die Stimmen als gezackte wutrote und hassgelbe Blitze aus den liegenden Körben in die Luft zucken. Der ganze Westerländer Strand übersät mit ächzenden Korbfleischlern. Symphonie für nordfriesische Strandkörbe mit obligatem Horn! Ja. Dazu eine Reihe von zehn Hornisten, die mit ihren Hörnern die Stimmen niederbliesen. Niedertönten mit ihrem zehnfachen, kopfsprengenden, dunklen Klang. Auch Dagmars Stimme wurde niedergeblasen. Er sah Dagmar mit weit geöffnetem Mund aus einem Korb brüllen, aber hörte nichts. Die zehn

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