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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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Hornisten dröhnten wie Flugzeuge. Flugzeuggedröhn über Soldatengräben. Zehn Kriegshornisten, die alle Stimmen, die verzweifelt aus den Strandkörben aufstiegen, übertönten, sich mit dem Meeresrauschen, dem entsetzlich gleichgültigen Meeresrauschen zu einem Klangdom über den Korbfleischlern aufbauten. Ein gigantischer Klanguterus saugte sie alle in sich hinein. Nein, Symphonie passte hier nicht. Oper eher. » Sylter Apokalypse. Fünf Euro Eintritt auf allen Plätzen.« Das Gestühl im Parkett wird ausgeräumt, die Zuschauer sitzen in Strandkörben. Die Strandkörbe auf der Bühne werden in Leichtbauweise hergestellt. Aus der Gruppe der zehn Hornisten, die nebeneinander vorne an der Bühne stehen, löst sich einer. Es ist Nacht. Nur noch leises Wimmern und Stöhnen aus den Körben. Ebbe. Das Meer zieht sich zurück. Der Strand ist dunkel und endlos. Der Hornist klettert auf eine Buhne. Bühnenbuhne. Er spielt die unendliche Melodie. Die Korbfleischler erheben sich. Sie bewegen sich mit ihren Korbpanzern langsam zur Musik. Ein kleiner Junge befreit sich aus seinem Familienfleischknäuel. Er sucht und findet einen Seestern. Es wird ganz still, in die Melodie des Buhnenhornisten klingt mit silbernem Stimmchen der Seestern. Er wird von dem Jungen, einem Solisten aus dem Tölzer Knabenchor, gesungen. » Kinder haben Sterne gerne«, singt er. » Serme, serme. Kinder haben Sterne gerne…« Und dann kommt die Flut, die Sturmflut, sie schluckt den Uterus. Nicht der Uterus sie. Sieg der Sturmflut über den Uterus. Es wird dunkel auf der Bühne. An den Strandkörben im Publikum werden kleine Lämpchen angeknipst, den Opernbesuchern wird Prosecco gebracht, sie dürfen jetzt auf die Bühne, Technomusik wird aufgedreht, eine Party wird gefeiert. Jeder bekommt einen individuellen Überlebensbeutel überreicht. Sie feiern eine Sylter Überlebensparty mit Fischbrötchen von Gosch und…
    Herr Merse spuckte in den Sand. Übelkeit erfasste ihn, er erbrach sich und setzte sich auf die Buhne neben sich. Er holte tief Luft. Sein Kopf fühlte sich klarer. Er grub das Erbrochene mit den Füßen ein. Wenn er jetzt Richtung Norden weiterginge, wäre er bald in Wenningstedt. Er sah das rote Kliff innerlich vor sich, das es so wie früher nicht mehr gab. Er war langsam. Mochte nicht mehr gehen, nicht mehr denken. Die Wut war weg. Hatte er vergessen, die Morgentablette einzunehmen? Er war lebensmüde und sterbenswach. Kein Schritt mehr. Jeder Schritt war überflüssig. Er sah von der Buhne auf den nassen Sand. » Müde bin ich, geh zur Ruh, Schnauze zu.« So war es. Spannenlanger Hansel, nudeldicke Deern. Eine Welle rollte heran. Das Salzwasser besprühte ihn. » Walle, walle manche Strecke«, hatte Barbara früher am Strand gejohlt. Bei » Und nun komm, du alter Besen«, hatte sie ihn immer bei den Schultern genommen und geschoben. Er war immer der Besen gewesen und musste zwischen ihr und dem Wasser hin- und herrennen und mit dem Eimer Wasser von hinten in die » Burg« der Eltern gießen. Die ihn dann angemeckert hatten. Er wäre jetzt gern ein Besen. Er würde hin- und herlaufen wie eine Maschine und nie mehr aufhören. Laufen, schöpfen, laufen, gießen, laufen, schöpfen, laufen, gießen, laufen… Bis man ihn schüttelte. Rüttelte und schüttelte. Bäumchen rüttel dich, Bäumchen schüttel dich… ruckediruh, Blut ist im Schuh… Bis man ihn abstellte. In die Besenkammer. Aus. Ruhe. Tür zu. Schnauze zu.
    Er griff in den Überlebensbeutel und holte das Handy heraus. Es blinkte. Ein » Unbekannt« hatte ihn angerufen und eine Nachricht auf seiner Box hinterlassen. Augenblicklich hellwach und flau vor Aufregung wählte er die AB -Nummer. Er hörte Annemarie Luners Stimme: » Es tut mir so leid, wir konnten uns gar nicht voneinander verabschieden. Nochmals ganz lieben Dank für alles. Es war ein schöner Austausch mit Ihnen. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihr weiteres Leben. Diese Nacht hat mein Leben verändert. Ich werde mit Joel zu meinen Eltern ziehen. Die können sich in Ruhe um ihn kümmern. Er braucht mehr Zuwendung. Ich habe gemerkt, wie er durch Sie aufgelebt ist. Ich bin sicher, dass ich da bei meinen Eltern Arbeit finde. Natascha ist mit Tapetenwechsel auch einverstanden. Es wird schon alles. Also alles, alles Gute Ihnen.« Die letzten Worte klangen erstickt. Als wenn sie sich selbst Mut zuspräche in ihre Angst hinein. Er wollte unmittelbar einstimmen: Es wird schon!
    Es wird schon!, jubelte er befreit. Sie hatte ihn

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