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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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reingefallen. Ich will nach Husum. Bredstedt bei Husum.« Der Schaffner schüttelte den Kopf.
    Der Zug fuhr bereits in den Bahnhof ein. Herr Merse stieg aus. Die Bahnhofsuhr zeigte zwanzig Uhr sechzehn. Er fand auf dem Bahnhofsvorplatz, auf den nur ein oder zwei Reisende tröpfelten, den Bus nach Bredstedt. Bis zur Abfahrt war noch etwas Zeit. Auf dem Platz gab es zwei Imbissbuden. Eine türkische, eine deutsche. Herr Merse entschied sich für eine Bockwurst und aß sie in den Schmerzklumpen hinein. Nie mehr Kebab. Er trank eine Bionade. Der Bus kam. Er setzte sich hinein und bat den Fahrer, ihn in Bredstedt hinauszusetzen. Der Fahrer fragte: » Wo in Bredstedt?« Herr Merse sagte: » An der Psychiatrie.« Der Fahrer nickte. » Sie meinen die Klinik.« Es war Herrn Merse recht, auf rücksichtsvoll-neutrale Weise als Verrückter eingestuft zu werden. Verrückter Besen.
    Er stieg noch einmal schnell aus, kaufte eine Flasche Mineralwasser am Kiosk und stieg wieder ein. Er schloss die Augen. Der Schmerz in seinem Innern war so wuchtig, dass er die Hand vor den Mund presste, um ihn nicht laut herauszustöhnen. Da half nur noch eines: Selbstverachtung. Er wollte mit aller Wucht über sich herfallen… Dagmar war nichts dagegen. Aber Dagmar war nicht mehr da. Erst verachtet, dann ein Verächter. Erst verachtet… Bredstedt. » Wollten Sie nicht aussteigen?«, fragte der Busfahrer. Herr Merse war der einzige Fahrgast. Er taumelte aus dem Bus. Bekam mit, wie der Busfahrer ihn im Rückspiegel mit verhohlener Neugier betrachtete. Erst verachtet, dann ein Verächter. Was war das? Von wem war das? » Endlich kapierst du was«, sagte er. Er drehte sich zum Bus um, hob die Faust und schüttelte sie. Der Busfahrer sah weg und fuhr an.
    Herr Merse stand auf einem kleinen Platz, rechts das Bushäuschen aus frisch gestrichenen Holzlatten, die noch leicht nach Karbolineum rochen, in der Mitte die Einfahrt in die Anstalt mit einer Pförtnerloge, auf der anderen Seite eine wild krautige Rabatte um einen Parkplatz herum, auf dem ein Auto stand. Es hatte das Kennzeichen HH - IM - 241 . Seine Initialen. Beziehungsweise seine Eheinitialen, die er nach der Scheidung beibehalten hatte. Ha, ha! Ingo Merse! Auch die Autonummer meint dich! Erst zwei mit Dagmar– dann die Sehnsuchtsvier mit den Luners– und nun war klar: Er war doch immer nur einer gewesen und würde auch einer bleiben.
    Er stand still. Das Autoschild war ihm vom Himmel gesandt worden. Als einfaches Orakel für einen, der des vieldeutigen Buchs von Musil nicht würdig war. Der seinen Namen aufgegeben hatte. Dessen Schwanensöhnchen ohne Vornamen durch die Schwärze segelte, verletzt und ausgelöscht. Er stand mit Dagmars Namen allein. Sie und ihr Kind würden nach dem Dirigenten heißen. Fischer. Andreas Fischer. » Das interessiert keinen Menschen«, sagte Herr Merse laut. Er wollte die Klinikanlage betreten und wartete ab, bis der Pförtner auf den Fernsehschirm schaute, der ein Fußballspiel zeigte. Der Pförtner rief aber hinter ihm her: » Was wünschen Sie?«, und kam sogar aus seinem Häuschen heraus. Herr Merse stotterte, er wolle eine Verwandte besuchen. » Jetzt? Wie heißt sie denn? Es ist schon nach einundzwanzig Uhr!« » Fischer. Andrea Fischer.« Der Pförtner schaute in den PC . » Ham wir nicht.« » Ach, dann ist sie wohl schon entlassen«, murmelte Herr Merse, kehrte um und ging wieder auf das Bushäuschen zu. Er ärgerte sich. Nichts klappte. Gar nichts. War ja klar. Dann eben mit den Beinen zuerst in die Klinik. Auf einer Trage. Er sah sich glasklar.
    Er nahm die Mineralwasserflasche heraus und die Tabletten. Nie wieder denken. Schnell über die Grenze. Ob sein Leben an ihm vorbeiziehen würde? Er schluckte eine Tablette nach der anderen. Erst alle Abend-, dann alle Morgentabletten. Plötzlich schoss ihm die Schamesröte ins Gesicht: Vor der Anstalt– warum bist du nicht einfach hineingegangen und hast gesagt: » Ich will nicht mehr.«? So werden sie dir den Magen auspumpen. Eklig. Egal. Vielleicht auch nicht. Ihm wurde übel. Er trank den letzten Rest Wasser aus. Er durfte sich nicht übergeben.
    Es war kühl jetzt am Abend, dämmerig im Bushäuschen. Er roch das Karbolineum. Im Strandkorb wäre es schöner. Er vermisste das Meer und das Rauschen, in der Stille hörte er sich selbst zu gut. Er schwankte zur Seite und stieß an den Hornkasten. Er fummelte in plötzlicher Eingebung die Schnürsenkel aus seinen Turnschuhen, band sie zusammen, tüdelte die

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