Herr Merse bricht auf
fand, obwohl sie ihn angerufen, wegen Joel um Hilfe gebeten und hierherbestellt habe, damit er sie begleite. Er log kühn. Ob Frau Luner ihre Handynummer hier hinterlassen habe. Nach ihrer Adresse traute er sich als » naher Freund« nicht zu fragen. Die Schwester schüttelte den Kopf. Nein, der Junge sei ja gar nicht aufgenommen worden, nur weitergeleitet. » Aber wohin? An welche Klinik?« Ein Arzt trat zu ihnen. » Wir dürfen Ihnen keine Auskünfte erteilen«, sagte er. » Oder sind Sie ein Verwandter?« » Ein guter Freund«, sagte Herr Merse verzweifelt. » Es tut mir leid«, sagte der Arzt.
Herrn Merse wurde erneut schwindlig, er spürte Übelkeit aufsteigen. Im Laufschritt verließ er die Klinik mit Horn und Überlebensbeutel, aber schon am Ausgang blieb er unschlüssig stehen. Es war der Südeingang, wohl der Hintereingang, durch den Joel und Frau Luner eilig zum Bahnhof gebracht worden waren. Er stellte sich vor ein Rondell mit hellrosa blühenden Bodendeckerrosen. Er starrte auf die Quecke und das Franzosenkraut dazwischen und versuchte durch ruhiges Atmen die Übelkeit zu überwinden. Die Klinik war von Heckenrosenwällen umgeben, er sog den vertrauten Blütenduft mit der Sommersalzluft ein. Das Wetter hatte sich gebessert, nur wenige weiße Wolken zogen am Himmelsblau entlang.
Die Wolken tragen mir keine Botschaft zu, dachte Herr Merse. Er stand eine Weile sinnend da. Er erwog, schnell nach Wenningstedt zu Natascha zu fahren und sie um die Handynummer ihrer Mutter zu bitten. Die er aus Versehen weggedrückt habe. Er hörte sich reden. Ach, er genierte sich vor ihr, vor diesen kühlen, glasklaren jungen Augen . Und doch schien es die einzige Möglichkeit zu sein. Oder gab es eine Telefonauskunft für Handys? Er wählte die Nummer der Auskunft. Unter Annemarie Luners Namen war nichts eingetragen. » Wovon hängt es ab, ob eine Nummer eingetragen wird oder nicht?«, fragte er. » Davon, ob die Kunden sie eintragen lassen.« » Aha. Und wie kommt es, dass bei dem einen Anrufer dessen Nummer auf dem Display erscheint, bei dem anderen aber › Unbekannt‹?« Die Frau erklärte ihm, dass jeder auf seinem Mobiltelefon einstellen könne, ob seine Nummer gezeigt oder unterdrückt werde. » Ach so. Unterdrückt. Vielen Dank.«
Herr Merse wusste nun Bescheid. Vielleicht wechselte Annemarie Luner mit ihrem Chef SMS und wollte nicht, falls dessen Frau auf das Handy ihres Mannes schaute, dass ihre Nummer erschien. Praktisch. Vielleicht hatte Natascha es ihr so eingestellt. Er schätzte Frau Luner nicht als Handyexpertin ein. Er schätzte sie eher wie sich selbst ein. Unpraktisch. Aber das konnte falsch sein. Wie auch immer, er war jetzt einen Schritt weiter. Aber zu Natascha würde er nicht fahren. Er wollte es alleine schaffen. Ohne Hilfe durch eine Siebzehnjährige. Er würde einfach die Adresse der Luners im Berliner Telefonbuch suchen. Falls sie sie dort hatte eintragen lassen. Und wenn nicht, würde er zu Gottschalk und Reese gehen und sich dort nach ihr erkundigen. Der Weg lag klar vor ihm. Er würde in Berlin vor ihrer Tür stehen und klingeln. Sie würde die Tür öffnen und sich freuen, ihn zu sehen…
* * *
Herr Merse wurde ruhiger, fast zuversichtlich. Er hatte den Weg selbst gefunden, er würde ihn gehen, er würde am Ziel ankommen, dann würde man weitersehen. Es war einfach. Schluss mit dem Dackeln. In dieser Nacht hatte er sich zum zielstrebigen Mann gemausert, der seine Beharrlichkeit zu nutzen wusste. Er lächelte zufrieden und beschloss, sein Gepäck aus den Schließfächern zu holen und sogleich nach Hamburg zu fahren. Hier hielt ihn nichts mehr. Er würde seine Sachen in der Wurstbude abstellen und unmittelbar nach Berlin weiterfahren und seine Erkundigungen einziehen. Sich ein Zimmer nehmen und Frau Luner dann erst einmal schreiben. Einen Brief. Nicht gleich bei ihr klingeln. Keine SMS . Keinen Zettel. Einen richtigen Brief. Er freute sich darauf. Und Joel würde er auch schreiben. Oder eine Postkarte schicken. Ein Luftbild des Hamburger Hafens mit seinem Gewirr von Fleeten…
» Und weiter geht’s«, sagte er anfeuernd zu sich selbst.
Die Beine zitterten heftig auf dem Gang zum Bahnhof, heftiger als kürzlich. Eine unbezähmbare Liebessehnsucht dehnte seine Brust und verscheuchte alle Zweifel. Zwar lag sein Entschluss von allen Seiten unter vielstimmigem Beschuss. Vor allem unter Dagmar-Beschuss. Aber er setzte beharrlich Schritt vor Schritt. » Und weiter geht’s.« Ja, er zitterte. Ja,
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