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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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angerufen. Sie hatte ihn nicht vergessen. Er war überglücklich, ihre Stimme zu hören. Er küsste das Handy, warf es in die Luft und fing es wieder auf. Küsste es wieder. » Johannes«, wollte er rufen, aber es blieb ihm im Hals stecken. Es war ihm peinlich, Johannes je mit sich belästigt zu haben. Aber mit wem, mit wem konnte er sein Glück teilen? Ach, musste er es denn teilen? War er nicht so glücklich genug?
    Er hörte die Mailbox noch einmal ab, wollte die Stimme wieder hören, wollte Annemarie von oben bis unten abküssen, hochheben, herumwirbeln, stützen, aufbauen, lieben, küssen, streicheln, drücken, alles. Alles nacheinander. Alles auf einmal. Diese Stimme, diese leichte, hauchige, zarte, weiche, schöne, unbestimmt fragende Stimme– wie er sie liebte.
    » Ich werde mit Joel zu meinen Eltern ziehen.« Der Satz erreichte ihn erst jetzt. » Zu meinen Eltern.« Ja, ja, praktisch, ja, gut, aber wie sollte er sie da auffinden? Warum hatte sie nicht gesagt, wo die wohnten? Sie hatte auch ihre Handynummer nicht hinterlassen. Sie musste doch wissen, dass die Nummer nicht erschien. Er schluckte und hörte die Botschaft ein drittes Mal ab. » Noch mal vielen Dank für alles. Es war ein schöner Austausch mit Ihnen. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihr weiteres Leben… alles, alles Gute Ihnen.« Er starrte an dem Display vorbei auf das Buhnenschwarz. Dicht an dicht saßen die Miesmuscheln auf dem Holz und glänzten vor Nässe. Er fuhr mit der Hand darüber und roch an der Hand. Es roch salzig, muschelig. Das waren ja Abschiedsworte: » Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihr weiteres Leben… alles, alles Gute Ihnen.« Ja. » Es wird schon.« An wen war das gerichtet? An sie selbst in ihrer Lage mit Joel? An ihn? Wollte sie ihm Mut zusprechen? Es wird schon? Sie kommen schon klar? Sie kommen schon klar ohne mich. Ohne mich ohne mich ohne mich. Es war endgültig. » Also alles, alles Gute Ihnen.« Er war ein Besen in einer dunklen Kammer, und der Besen sagte ohne mich ohne mich ohne mich ohne mich ohne mich never never never never never. Die Lear-Maschine auf der Sylter Heide. Es wohnet auf grüner Haaaaaaaaaaaa aide , des Wirts fein Töchterlein aus Mahlers Wunderhorn, Haaaaaaaaaaaide.
    Er nahm das Handy, wog es in der Hand und entfernte sich von der Buhne, so dass er eine freie Fläche vor sich hatte. Er bückte sich, holte seitlich aus und ditschte das Handy mit aller Kraft über das flach auslaufende Wasser. Eine gute Serie. Sechsmal tanzte es auf der Oberfläche. Sechs. Eben kein Sex. Sechs wie die Hex. Und verschwand. So. Das war es. Es war eines, die Grenze zu überschreiten, und ein anderes, den Pass wegzuwerfen, der einen zurückbringen kann. Herr Merse zog die Schließfachschlüssel unter den Socken hervor, entschloss sich aber gegen ein Wegditschen der Schlüssel, damit sich keiner an den Bärten verletzte. Nie. Kein Bart, nirgends. Er war fühllos, ein Maschinenhornist, aber dachte an die Gefühle anderer. Er würde Anemone Luner nicht ein einziges Mal mit seinen Bartstoppeln berühren. Es gab keine Berührung.
    Er verließ den Strand. Am Bahnhof legte er die drei Schlüssel oben auf die Schließfächer, wandte sich um und setzte sich auf die Bank, auf der kürzlich Oskar gesessen hatte. Nach einer Weile stand er wieder auf und nahm den Schlüssel für das Fach, in dem er das Horn untergestellt hatte, wieder herunter, öffnete das Schließfach und zog das Horn im Koffer heraus. Mit Horn und Überlebensbeutel setzte er sich zurück auf die Bank. Sie stand im Nachmittagssonnenschein. Er döste im Sitzen mit seinem schwarzen Schmerzklumpen hinter dem Brustbein. Schreckte hoch, als der Zug angekündigt wurde. Der Zug kam an, goss Menschen aus den Türöffnungen und war dann bereit zur Rückfahrt. Es war ein Regionalzug über Husum nach Hamburg. Herr Merse setzte sich in ein Abteil und schlief unmittelbar ein. Er verschlief den Hindenburgdamm, verschlief Niebüll, verschlief die Marsch und wurde kurz vor Husum von einem Schaffner wachgerüttelt. » Wo wollen Sie hin?«, fragte der Schaffner. » Wo sind wir?«, fragte Herr Merse. » Kurz vor Husum.« » Ich möchte zu meinem Sohn. Nach Niebüll.« » Das haben Sie verschlafen.« Der Schaffner verkaufte ihm ein Ticket bis Husum, das er aus seinem Maschinchen hervorrollte. Herr Merse gab ihm fünfzehn Euro. » Gut so«, sagte er, » war nur ein Trickversuch mit Niebüll. Ich hab keinen Sohn. Ich wollte nur nicht so viel bezahlen. Aber Sie sind nicht drauf

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