Herr Merse bricht auf
Falls wir nach Husum oder Hamburg müssen. Vielleicht sogar nach Berlin zurück. Joel muss vielleicht epileptische Tabletten bekommen oder so. Sie schickt mir ’ne SMS von der Klinik.« » Ich war hier auch mal in der Klinik. In der Inselklinik«, sagte Herr Merse. » Als Junge. Hatte ein dickes Knie.« » Aha. Ist wohl schon etwas her, nicht?« » Ja.« » Also dann tschüs«, sagte Natascha. » Noch schöne Ferien!« » Danke«, sagte Herr Merse. » Grüß– grüß deine Mutter und Joel von mir. Sag ihr, dass ich gute Besserung wünsche.« » Ja. Mach ich. Wollen Sie Ihre Sachen nicht mitnehmen?«, fragte Natascha, als er schon halb die Treppe hinuntergestiegen war. » Sachen? Ach so. Ja. Natürlich.« Herr Merse holte den Rollkoffer und das Horn. » Schade«, sagte Natascha hinter ihm her. » Joel wollte so gern das Horn auspacken, aber Mama hat es verboten.« » Vielleicht besuche ich euch mal«, sagte Herr Merse. » Ich hab ja jetzt die Handynummer deiner Mutter. Schluss mit den Zetteln«, lächelte er zu Natascha hin. Sie hob den Arm und winkte kurz, als er unten von der Treppe aus noch einmal hochsah zum Zimmer. Herr Merse winkte zurück.
Er nahm den Bus nach Westerland, holte seine Windjacke aus dem Rollkoffer hervor, zog sie über und stellte den Koffer in ein weiteres Schließfach. Er brachte den Anorak zur Pizzeria zurück. Sie war noch geschlossen. Er klemmte den Anorak an die Tür und schrieb auf eine Postkarte, die er in einem Kiosk kaufte: » Aus Versehen mitgenommen. Verwechselt. Bitte dem Besitzer zurückgeben.« Die Karte steckte er in den Anorak. Dann ging er mit Horn und Übernachtungsbeutel zur Klinik, einem quadratischen Betonklotz nahe dem Bahnhof. Neben einer großen Tür mit dem Schild » Aufnahme« entdeckte er Annemarie Luner. Sie saß auf einer Bank und wirkte nicht überrascht, als er auf sie zukam. » Sie machen gerade ein EEG . Messen seine Hirnströme. Man weiß noch nichts Genaues. Manchmal können solche Krämpfe auch bei sehr hohem Fieber auftreten. Er hat so mit den Zähnen geknirscht! Und die Augen verdreht! Dabei wurde es gestern Abend besser, nachdem der Arzt da war und ihm eine Spritze gegeben hat. Aber dann heute Morgen…« Sie schauderte.
Herr Merse legte ihr seine Hand auf die Schulter. » Ich bring Ihnen mal einen Kaffee.« Er zog einen Milchkaffee aus dem Automaten am Ende des Flurs und aus einem Vitrinenschrank daneben ein belegtes Brötchen. Die übermüdete Frau Luner mit den dunklen Schatten unter den Augen kam ihm wie ein eingeknicktes Schilfrohr vor. Er setzte sich neben sie, während sie schweigend aß und trank. » Ich hab heute Nacht unterm Strandkorb geschlafen«, setzte Herr Merse zu einer Erzählung an, unterbrach sich jedoch. Er war jetzt nicht wichtig. » Sie haben wohl gar nicht geschlafen, oder?« » Nein«, antwortete sie leise. Nach einer Weile fragte sie geistesabwesend: » Unterm Strandkorb?«
Eine Schwester kam und holte Frau Luner ab. Herr Merse sah den beiden Frauen nach, die Schwester im weißen Kittel auf lautlosen Birkenstockschuhen, Frau Luner in Jeans, einem roten T-Shirt, wirr aufgesteckten Locken und in braunen, halbhohen Sandaletten, die über das Linoleum klackten. Er wünschte mit aller Macht, dass sich Frau Luner zu ihm umdrehte, ihm zuwinkte oder ihn noch einmal ansah, bevor der Gang nach rechts abbog, aber die beiden verschwanden um die Ecke, und kurz darauf war auch das Klacken nicht mehr zu hören. Herr Merse wartete lange. Er schaute auf seinen Hornkoffer. Das Horn passte nicht hierher, und er auch nicht. Er war ein unpassender, müder Hornist am falschen Ort.
» Unser Rettungshornist braucht Erste Hilfe«, hörte er spöttelnd Dagmars Stimme. » Mund-zu-Mund-Beatmung am besten…« Er schreckte auf, wollte die Dagmar-Stimme anfahren, aber ihm fiel nichts ein. Wenn er diese Stimme doch endgültig abstellen könnte, die alles immer schlimmer machte, dachte er müde. Er stand auf und reckte sich. Ihm war schwindlig. Sein Luner-Schilfrohr schwankte; er musste stierhaft stark sein. Ein Arzt erschien aus einem Zimmer und verschwand hinten um die Ecke. Herr Merse folgte ihm leise. Als er um die Ecke bog, lag genauso ein Gang vor ihm wie vorne. Auf der linken Seite befand sich eine Reihe geschlossener Türen. Er traute sich nicht zu horchen, wo Joel und Annemarie waren. Hinter einer dieser Türen liegt er, dachte Herr Merse. Sie stehen um sein Bett herum und beraten. Frau Luner hatte ihm kein Zeichen gegeben, dass er auf sie warten
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