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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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solle. Er ging wieder zurück und unterdrückte den Impuls, sein Horn aus dem Hornkoffer zu nehmen und zu spielen. Er hätte es gern getan, für Joel, um ihn aufzumuntern. Aber das würde die anderen Kranken stören.
    Husum oder Hamburg oder sogar Berlin. Husum wäre das Nächste. Graue Stadt mit Krokuspark. Nördlich von Husum gab es eine psychiatrische Anstalt. In Bredstedt. Bredstedt bei Husum. Immer wenn sie mit dem Zug nach Sylt fuhren, hatte seine Mutter gesagt: » Jetzt sind wir schon in Bredstedt.« Bis er gefragt hatte: » Was ist denn in Bredstedt?« » Eine Klapsmühle«, hatte die Mutter geantwortet, und der Vater hatte die Stirn gerunzelt über den Ausdruck, aber nichts gesagt. Jahre später hatte Herr Merse erfahren, dass sein Vater einmal einen Kollegen dorthin gebracht hatte. Der hatte nicht mehr geschlafen, mit sich selbst geredet und war bei Ebbe allein weit hinausgeschwommen. Als sie ihn ins Rettungsboot hievten, hatte er gebrüllt und war kaum zu bändigen gewesen. Ein herbeigeholter Arzt hatte dem Schreienden eine Spritze gegeben. Später hatte der Vater den wieder ganz ruhigen Kollegen auf dessen Wunsch nach Bredstedt begleitet. Dieser Kollege war nie wieder mit in die Ferienkinderbetreuung gekommen. Er wurde, als er die Klinik nach Monaten verlassen hatte, vom Gymnasium in eine Grundschule versetzt. Seine Spur verlor sich. Bis die Mutter am Küchentisch zum Frühstück seine Todesanzeige aus der Zeitung vorgelesen hatte. Sie las stets die Todesanzeigen vor. Herr Merse wusste, dass sein Vater sich Vorwürfe machte und sicher war, dass der Kollege Selbstmord verübt hatte. Die Todesursache ging aus der Anzeige nicht klar hervor, es hatte einen Streit darüber gegeben zwischen den Eltern. » Wir haben ihn damals abgeschoben«, hatte der Vater gesagt. » Hätten mit ihm reden sollen.« » Ach was, mit dem war nicht zu reden«, war Mutters Standpunkt gewesen.
    Ob in Bredstedt eine neurologische Abteilung war für Joel? Sollte er ihn nicht begleiten? Herr Merse war fest entschlossen, Joel nicht allein zu lassen in Bredstedt. Booby hatch Bredstedt, Joel, ich bleib mit dir da. Er war anders als sein Vater. Pass auf, Bredstedt ist ein idealer Ort für Einhörner, Junge, und Einhörner lieben Labyrinthe. Er musste an die Musiktherapeutin in der Psychiatrie damals denken, die ihn zum » Platzen« bringen wollte. Schlimm war es da nicht gewesen. Im Gegenteil. Aber Psychiatrie war nicht Neurologie, fiel ihm ein. In der Neurologie ging es nur um Gehirnwindungen. Er gähnte.
    Herr Merse wartete und wartete. Menschen kamen und gingen, Schuhe quietschten auf dem Linoleum, Türen öffneten und schlossen sich, Edelstahlwagen mit und ohne Essen darauf wurden vorbeigerollt und verschwanden. Gegen Mittag sprach ihn eine Schwester an– auf wen er denn warte. Es stellte sich heraus, dass Joel und seine Mutter die Klinik durch einen anderen Ausgang längst verlassen hatten. Es sei alles schnell gegangen, sagte die Schwester wie tröstend, als sie sein Gesicht sah, schnell, damit sie den Zug noch bekamen.
    Herr Merse schaute auf sein Handy. Es war ausgestellt, was er sich nicht erklären konnte. Er hatte es nicht ausgestellt. Oder doch? Was für ein Tölpel er war, dass er es nicht schon längst parat hatte. Vielleicht hatte sie ihn benachrichtigen wollen! Dass er zum anderen Ausgang kommen sollte! Hier saß er wie ein Lamm, das berühmte Traumschaf, nicht bestellt, nicht abgeholt, nicht erreichbar, nicht online. Er stellte das Handy an. Zwei SMS waren eingegangen. Beide von Barbara. Nichts von Frau Luner. Er suchte in der Liste der angenommenen und nicht angenommenen Anrufe nach ihrer Handynummer. Die Liste enthielt nur Barbaras Nummer sowie die Nummer von Wolf, der seine letzte Stunde vor den Ferien abgesagt hatte, und ein » Unbekannt«. Unbekannt? Wieso, sie hatte ihn doch kürzlich angerufen! Hatte er ihre Nummer auf dem Display gesehen oder ein » Unbekannt«? Wahrscheinlich hatte er nicht darauf geachtet, schnell den Anruf angenommen und nur auf ihre Stimme gehört. Alles andere vergessen. Er achtete nicht auf so etwas. Barbara hatte recht: Er war nicht lebenstauglich im Praktischen. Vielleicht überhaupt nicht. Erregt ging er im Zickzack den Flur entlang. Er musste das klären. Sofort.
    Er klopfte an eine Tür mit der Aufschrift »Dienstzimmer«. Gab sich als naher Freund der Luners aus, der in der Hektik der Abreise wohl nicht mehr von Frau Luner benachrichtigt werden konnte und jetzt ihre Handynummer nicht

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