Herr Möslein ist tot (German Edition)
Nach einem höflichen Smalltalk bei Kuchen und Musik von Ray Charles, dessen Platte ich neben Eierbechern und Keramikkrügen von meiner Jugendtouristreise aus Bulgarien mitgebracht hatte, und die jetzt auf meinem Plattenspieler knistert, konfrontiere ich Jürgen so einfühlsam wie möglich mit meinem Plan.
»Du Jürgen, könntest du mir bitte helfen, jemanden zu suchen beziehungsweise zu finden? Von hier aus ist es quasi unmöglich und vielleicht sogar gefährlich, eine Telefonnummer oder einen Wohnort in Westberlin zu ermitteln. Ich gehe davon aus, dass alle Telefongespräche von hier nach Westberlin abgehört werden.« Dabei gucke ich mein Gegenüber verschwörerisch an. »Aber auch für dich ist es nicht einfach. Ein bisschen Mut gehört dazu, Jürgen!«, versuche ich ihn bei seinem männlichen Stolz zu packen. »Du musst die Telefonnummer von Brigitte Lummer rauskriegen. Dann rufst du sie an und fragst, wo ihr Sohn Carsten arbeitet.«
»Wer ist denn Carsten? Und was willst du von ihm?«
Natürlich erzähle ich ihm nicht, dass es sich bei Frau Lummer um meine zukünftige Schwiegermutter und bei Carsten um meinen Traummann handelt. Ich will ihn ja nicht demotivieren. Stattdessen gucke ich so verführerisch es mit einem zwanzigjährigen Gesicht möglich ist, und erkläre: »Carsten ist ein alter Freund von mir, der kürzlich ausgereist ist. Ich habe den Kontakt zu ihm verloren. Er lebt wahrscheinlich bei seiner Mutter, Frau Lummer.«
»Und warum suchst du den Kontakt?« Jürgen ist misstrauisch und hat sicher Angst, dass ich meine Bananen zukünftig von Carsten bekomme. Ich versuche, Jürgen zu beschwichtigen. »Betty und ich werden demnächst ein Gastspiel in Westberlin haben, und ich möchte ihn gern treffen. Einfach so, als alten Freund!«
»Ihr dürft nach Westberlin? Das ist ja großartig. Wie kommt das?«
»Wir haben, wegen einer Auftrittsanfrage aus Westberlin schon vor über einem Jahr einen Antrag gestellt, und der wird demnächst genehmigt … äh … hat man uns gesagt!«, korrigiere ich mich schnell, denn ich weiß davon ja nur, weil ich es schon erlebt habe.
»Und du bist der Einzige, der mir helfen kann, Carsten vorher ausfindig zu machen. Bitte, Jürgen!« Ich schlage wie Pauli meine Hände bittend zusammen.
Jürgen senkt den Blick hinter seinen Brillengläsern, so als müsse er noch überlegen. Doch er ist ein schlechter Schauspieler, denn seine ganze Körpersprache zeigt befriedigte Anerkennung, und seine magere Brust ist stolz geschwollen. Er will mein Held sein.
»Na gut!«, lächelt er mich selbstbewusst an. »Worauf soll ich achten, und wie soll ich dir die ermittelten Informationen zukommen lassen?«
»Sehr gut, das sind die entscheidenden Fragen.« Ich frohlocke bei dem Gedanken, wie hilfreich männliche Hormone sein können. Jürgen beugt sich konspirativ über meinen Küchentisch und senkt die Stimme. »Dann besorge ich die Infos und überbringe sie dir beim nächsten Treffen mündlich!«
»Großartige Idee. Wann könntest du wieder in die DDR kommen?«
»Nächste Woche habe ich noch frei. Was hältst du von Freitag?«
Ich blättere in meinem Terminkalender. »Oh, da bin ich in Ostberlin. Wir haben drei Tage hintereinander im Hotel Stadt Berlin am Alex Auftritt.«
»Na super, da komme ich hin und kann dir gleich mal beim Tanzen zuschauen!«
»Oh, Jürgen … ich glaube, das ist keine gute Idee, wenn wir zusammen in der Öffentlichkeit gesehen werden. Besser ist, ich bestelle für Freitag ein Zimmer im Hotel. Dort können wir uns unbeobachtet treffen.«
»Na, das finde ich ja schau!« Jürgen grinst mich zweideutig an. «Ich werde pünktlich sein!« Ich schaue in Jürgens durch die Brille extrem vergrößerte wasserblaue Augen und muss mich bei dem Gedanken an zweideutige Zweisamkeit mit ihm, den man in ’ 89er-Sprechweise wohl als Körperklaus bezeichnen würde, schütteln. Weil ich ihm seine falschen Hoffnungen aus egoistischen Gründen im Moment nicht nehmen will, sage ich mit korrekt zeitgemäßer Wortwahl und so liebevoll wie möglich: »Jürgen, das finde ich wirklich urst nett von dir!«
»Eine Sache haben wir noch nicht bedacht, Tati. Wie komme ich an deine Zimmernummer?« Ich bin erstaunt über Jürgens logische Fragen. Eigentlich traue ich ihm so viel Empathie für ostdeutsche Befindlichkeiten gar nicht zu. Vielleicht ist er unsympathisch, aber keinesfalls so einfältig, wie er aussieht.
»Sehr guter Einwand, lieber Jürgen!«, sage ich darum fast euphorisch.
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