Herr Möslein ist tot (German Edition)
Carsten. Ingo sieht toll aus. Ein bisschen wie Thomas Anders am Anfang seiner Karriere. Ingo ist natürlich größer als Herr Anders, sehr schmal und jungenhaft. Er hat lange dunkle Locken und trägt eine schwarze Stoffhose mit Hosenträgern, an denen ein Gummibärchen-Anstecker befestigt ist. Ich finde seine Kleiderwahl zwar ein bisschen kindisch, aber lecker, wie man heute sagen würde. Damals hatte ich mich Hals über Kopf in Ingo verliebt. Jetzt, beim Drücken meiner Lebens-Wiederholungstaste, habe ich das Problem, meine Hormone nicht in den Griff zu bekommen, und muss sie mit meiner Yoga-Übung weghecheln. Ich darf mich auf keinen Fall in Ingo verlieben. Irgendwo in dieser großen Stadt wartet Carsten auf mich. Hoffentlich. Bestimmt.
Ingo drückt mich ganz fest an seine jugendliche Brust, und ich konzentriere mich auf den Tatbestand, dass ich in Wirklichkeit schon fünfzig Jahre alt bin und darum mit Muttergefühlen zu reagieren habe. Aber in seinen Armen überkommt mich ein Kribbeln, an Stellen … mhm … oh je …und treibt mir die Schamesröte ins Gesicht. Mein Körper reagiert so schnell und heftig, wie schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Meine Libido geht wie ein Porsche 911 Turbo innerhalb von 3,2 Sekunden von 0 auf 100. Ich atme zweimal yogatief durch und drücke Ingo weg.
Wenig später tanzen Betty und ich mit großer Federkappe und im knappen Netztrikot, das Brust und Scham mit funkelnden Applikationen verdeckt, Michael Jacksons »Liberian Girl«. Das ist ein erotischer Tanz, den wir extra für die Nachtprogramme des »Varieté mobil«, einem Berliner Wander-Varieté, das in einem Zirkuszelt beherbergt war, einstudiert hatten. Wir schreiten erhobenen Hauptes auf die Tanzfläche der Nachtbar, wedeln mit der Federboa, und während ich mich elegant drehe und dabei die Augen aus der verschämten Anfangspose so erotisch wie möglich aufschlage, sehe ich direkt vor mir Heinzi sitzen. Ich ziehe mein rechtes Bein langsam an meinen Kopf und denke erst: Was macht er hier? Und dann sofort: Wo ist Pauli? Mein Bein rutscht aus meinen Händen und trifft Betty auf der Schulter, direkt neben der Federkappe. Betty fängt den drohenden Sturz elegant ab, indem sie in den Spagat rutscht. Sie blickt wütend zu mir auf. Ich rutsche ebenfalls in den Spagat, schiele Betty an, indem ich meine Augen in Richtung Heinzi rolle. Betty rollt zurück, mit den Augen und ihrem Körper. Dann stehen wir mit einer eleganten Pirouette auf und sind wieder drin in der Choreografie.
Heinz guckt wie ein waidwundes Reh und schlürft an einer »Grünen Wiese«. Ich beuge meinen Oberkörper nach hinten, bis meine Hände den Boden erreichen und ich in der Brücke stehe. Heinzi steht jetzt auf dem Kopf. Die »Grüne Wiese« ist genauso grün wie das Jackett, das er trägt und das ich von meinem ersten Tänzerhonorar für ihn zu unserer Hochzeit gekauft hatte, während ich mit einem Dreißig-Mark-Kleid, pink mit weißen Punkten, vorliebnehmen musste. Jetzt stütze ich mich auf meine Unterarme und strecke die Beine fest durch.
Nach unserer Rückkehr in die Garderobe erkläre ich Betty meine unzureichende Tanzdarbietung und gebe natürlich Heinzi die Schuld. Betty schimpft. »Woher weiß der überhaupt, dass wir hier sind?«
»Weil ich es ihm gesagt habe, als wir darüber gesprochen haben, wann er Pauli abends hütet und wann ich.«
»Und was will er hier? Und wo hat er Pauli? Du solltest ihm das verbieten. Eine Unverschämtheit.«
»Ich werde das gleich klären. Verbieten kann ich ihm nichts, solange wir noch in einer Wohnung wohnen müssen. Sonst bekomme ich Stress! Ich weiß ja nicht, wozu ein eifersüchtiger und verlassener Mann in der Lage ist!« Schon während ich Betty meine Situation beschreibe, ärgere ich mich über die ängstliche Unsicherheit, von der ich glaubte, sie mit fast fünfzig abgelegt zu haben. Fakt ist, ich befürchte, dass mich Heinzi mit seinen Geli-Kontakten bei meiner Carsten-Suche behindern will.
Ingo, der während unserer kurzen Auftrittsauswertung neben mir stand, streichelt meinen Rücken. »Ich beschütze dich, Tati! Wirklich!« Dabei schaut er mich mit rehbraunen Augen an, und meine Hormone tanzen im Viereck. Man, wie ruhig lebt man mit fünfzig, schießt es mir durch den Kopf. Kann mich nicht erinnern, in letzter Zeit so heiß gewesen zu sein.
Nach unserem dritten und letzten Tanz kann ich endlich in die Bar gehen und Heinzi zur Rede stellen. »Was machst du hier? Und wo ist Pauli!«
»Fährst du mit mir
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