Herr Möslein ist tot (German Edition)
»Pass auf, ich rufe dich Freitagvormittag an und erzähle dir von dem Geburtstag meiner Oma. Ihr Alter ist die Zimmernummer, okay?«
Beim Abschied lasse ich Jürgen noch fünf Mal den Namen meiner Schwiemu »Brigitte Lummer« sagen, damit er ihn auch wirklich nicht vergisst.
Spielverderber
Ich hasse es zu warten, aber mir blieb nichts anderes übrig, als dem vereinbarten Termin mit Jürgen über eine Woche lang entgegenzufiebern. Natürlich hätte ich gern eher bei ihm angerufen und Schwiemus Telefonnummer einfach abgefragt, aber mein durch die Medien nach 1990 potenzierter Verfolgungswahn verhinderte mutiges Vorgehen. Folgerichtig vergingen die Tage bis zu unserem Auftritt im Hotel wie in Zeitlupe. Heinzis ewig vorwurfsvolles Gesicht, wenn er abends die Forster Heizung mit Kohle bestückte und die rote Asche in den Eimer umfüllte, oder sein demonstratives Geschmuse mit unserem Kind, stets einen Blick in meine Richtung, damit ich auch ja mitbekomme, wie er leidet, nervten mich. Zur Ablenkung las ich täglich die Tageszeitung Märkische Volksstimme , die trotz großer Ausreisewelle mitteilte, wie gut es den Werktätigen in der DDR geht und wie die LPG »Rote Nelke« im Kampf gegen den Kapitalismus die Ernte eingefahren hat. Aber jetzt rege ich mich darüber nicht mehr auf, denn ich weiß, dass mehr Demokratie nicht unbedingt mehr Wahr heit in die unzähligen Zeitungen und Magazine befördert, sondern einfach nur mehr Meinungen; dass Themen, die man eigentlich wegdiskutieren will, so viel Raum bekommen, dass nicht mehr das Thema an sich langweilt, sondern das ewige Gelabere darüber. Diesmal, beim zweiten Erleben des Jahres 1989, finde ich die Lektüre der Tageszeitung eher lustig; fast so wie die »Donald-Duck«-Hefte meiner Kindheit, die meine Mutter stets tief im Kleiderschrank versteckt hielt und nur heimlich, wenn Papa nicht da war, mir und meiner Schwester zum Lesen gab.
In der vergangenen Woche hatte ich unablässig das Gefühl, die Zeit stünde still. Ich empfand eine gemächliche Ruhe, trotz polternder LKW und unzähliger Menschen in den O-Bussen und Straßenbahnen; fühlte mich untätig, trotz permanent zu erfüllender Aufgaben, wie Tanzproben, Einkäufe und Nahrungszubereitung. Das alte Leben macht mir ein Gefühl der stressfreien Anstrengung. Ich schwebe in einer Blase, abgeschnitten vom Lärm des Alltäglichen, über einer mit einem Grauschleier überzogen Welt und bin permanent bemüht, diesen Schleier – wie in der Waschmittelwerbung – einfach abzuziehen. Die schönsten Momente, die ohne Heimweh, ohne Sehnsucht nach Carstens heiterer Gelassenheit und liebevoller Fürsorge, waren die Stunden jedes ausklingenden Tages, wenn sich Pauli an mich kuschelte, wenn wir uns in der Badewanne mit Schaummasken erschreckten oder beim Telelotto auf die 14 warteten, die Humor verspricht, und schnell umschalteten, wenn die 23 gezogen wurde, weil Pauli Operette nicht leiden kann. Aber schon bei der 23 dachte ich wieder an Carsten. Das ist seine Lieblingszahl. Meine Lieblingszahl ist die 27 – aber nicht wegen der Lottosendung im DDR -Fernsehen, denn hinter dieser Zahl verbarg sich »Singe- Club«, womit meist der Oktoberclub gemeint war.
Heute, am Donnerstag, den 21. September, kommt endlich Schwung in meinen zähen DDR -Alltag. Ich freue mich in zweierlei Hinsicht auf die drei Auftritts-Tage im Hotel Stadt Berlin. Zum einen, weil ich wieder ein paar Kollegen zum Quatschen habe, und zum anderen, weil die Kontaktaufnahme zu Carsten in greifbare Nähe rückt. Betty holt mich ab. Sie ist gut drauf, eigentlich wie immer. Sie plaudert über unsere großartigen Erfolge bei den Proben, die anstehende Einstufung und unsere nächste Kostüm-Anprobe. Irgendwie merke ich, dass sie mir etwas Wichtiges zu sagen hat. Sie ist so unruhig und fährt ein bisschen unkonzentriert über Teltows Holperstraßen. »Du Tati, ich halte es nicht mehr aus, ich muss es dir sagen …!«
»Was?«
»Wir haben eine Anfrage, auch in Westberlin aufzutreten! Die Künstler-Agentur hat mich angerufen, und ich habe den Vertrag bereits unterschrieben!«
So isses, denke ich. Ein Zauberer aus Österreich, der anlässlich der 750-Jahr-Feier in Berlin gastierte, hatte uns gefragt, ob wir mit ihm bei einer Party der Augenärzte in der Berliner »Pumpe« auftreten und gleichzeitig als seine Zauberassistentinnen fungieren wollten. »Sag doch was!«, unterbricht Betty meinen Erinnerungsflash.
»Ich freue mich sehr. Toll. Großartig«, antworte ich
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