Herr Möslein ist tot (German Edition)
Würden Sie mir bitte ein paar Fragen zu ihrer Wohnsituation beantworten?«
»Hörnse mal Frollein. Wat solln dit sein: Bürjeramt?«
Mich durchfährt ein furchtbarer Schreck. Wie heißen um Gottes willen die Bürgerämter vor 1990? »Nein, Entschuldigung. Ich habe mich versprochen, Herr Lummer! Ich wollte eigentlich nur wissen, ob Sie Carsten heißen.«
Herr Lummer atmet asthmatisch. »Nö, ick heiße Paul, Paul Lummer, und ick kenne och keenen Carsten. Da hamse sich wohl vawählt, Frollein!«
Ich bedankte mich kurz, legte auf und beschließe, das Wort »Einwohnermeldeamt« zu verwenden. Unter der nächsten Nummer meldete sich eine Altfrauenstimme, irgendwie sehr dünn und weinerlich. Da meine Schwiegermutter in den Achtzigern höchstens Mitte vierzig sein kann, entschuldige ich mich schnell und beende das Gespräch. Die dritte Nummer muss die richtige sein. Mein Puls galoppiert wie ein durchgegangener Gaul, mein Körper schüttet irgendwelche Hormone aus, die unmittelbare Auswirkungen auf meine Magensaftsekretion haben, dazu die schlecht, nach Katzenklo riechende Telefonzelle. Mir wird übel. Ich stelle meinen Fuß in die Zellentür, um die Frischluftzufuhr zu verbessern. Die dritte Mark fällt klirrend in die unendlichen Tiefen des Apparates. Ich wähle die alles entscheidende Nummer und versuche gleichzeitig, meine Schnappatmung unter Kontrolle zu kriegen. »Lummer hier!« Schwiemus Stimme klingt zwar etwas heller als zwanzig Jahre später, aber ihr Dialekt ist verräterisch, Sachsen-Anhalt eben. Ich atme tief durch. »Guten Tag, Frau Lummer. Mein Name ist Meissner, und ich rufe im Auftrag des Einwohnermeldeamtes an. Hätten Sie bitte eine Minute Zeit für mich?«, sage ich so beamtenmäßig wie möglich. Es klickt im Hörer. Wahrscheinlich hat der Campingbeutel Telefondienst. Mist.
»Worum geht’s?«
»Könnten Sie mir bitte ein paar Fragen beantworten?«
Sie antwortete nicht. »Frau Lummer?«
»Ja!«
»Könnten Sie mir bitte Auskunft darüber geben, wie viele Personen in Ihrem Haushalt leben?«
Schweigen. Ich höre Schwiemu tief durchatmen. Ihre Antwort klingt so wütend, dass ich annehme, sie hat das Klicken im Hörer ebenfalls gehört und reagiert, wie eine gelernte DDR -Bürgerin reagieren muss. Aus sicherer Distanz sagt sie dem Lauscher ihre Meinung: »Nee, nee … nicht mit mir! Ich bin doch nicht in den Westen ausgereist, dass ihr jetzt auf diese plumpe Art versucht, wieder Kontakt zu mir aufzunehmen. Hat mir schon gereicht, dass ihr mir ’ 87 meinen Mann hinterhergeschickt habt. Lass mal gut sein, Mädelchen. Mit euch will ich nichts zu tun haben!« Kaum hat sie den Satz zu Ende gesprochen, legt sie auf, und mir wird so übel, wie sonst nur bei einem Migräneanfall. Erst nach einem Kaffee in meiner holzgetäfelten Küche arbeiten Magen und Gehirn wieder einigermaßen normal.
Ich beschließe, die von mir ermittelte Lummer-Nummer Gisi bei unserer heutigen Verabredung zu geben, ihr offen von Jürgens Versagen zu berichten und sie dann zu fragen, ob mir ihr Westberliner Cousin bei der Suche nach Carsten behilflich sein könnte. Diese Bitte habe ich bisher nicht geäußert, weil ich meine alte Freundin Gisi zu gut kenne. Schmalzige Rosamunde-Pilcher-Drehbücher à la: Das ist der einzige Mann in meinem Leben, mit dem ich glücklich sein werde!, entziehen sich Gisis Vorstellungs- und Verständnishorizont. Ich fürchte, sie wird mich für komplett verblödet halten und auf eine schwere Krankheit tippen. Trotzdem werde ich es versuchen. Mir bleibt keine andere Wahl.
Um Gisi gütig zu stimmen, habe ich zur Vorbereitung des heutigen Mädelsabends keine Kosten und Mühen gescheut und alles für einen Salatteller besorgt, was es um diese Jahreszeit in der DDR käuflich zu erwerben gibt. Tante Bohm, so nennt Pauli die Inhaberin des Tante-Emma-Ladens im Nebenhaus, hat mir – oh Wunder – Weintrauben und eine Salatgurke zurückgelegt. Kopfsalat gäbe es im September nie, sagte sie noch. Ich nutzte den Nachmittag und stellte mich beim Konsum in der Ernst-Thälmann-Straße, Nähe Bahnhof Drewitz an und ergatterte dort ein paar Chicoree. Danach besorgte ich in der Kaufhalle am Stern Möhren sowie einen weißen und einen roten Kohlkopf. Im Kühlschrank stehen zwei Flaschen Murfatlar, ein extrem süßer Wein, auch Schlüpferstürmer genannt, den wir damals tranken, bevor trockene Weine über die gefallene Mauer spülten. Ich muss mich sputen, die Zeit rennt! Während ich das stumpfe Küchenmesser durch den
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