Herr Möslein ist tot (German Edition)
Strunk des Chicorees säbele, lasse ich die letzten drei Tage vor meinem inneren Auge Revue passieren. In meiner Wohnung ging es zu wie in einem Taubenschlag. Dass wir uns vor Einführung des Internets im Freundeskreis oft besuchten, daran erinnerte ich mich noch, aber wie sich das anfühlt, hatte ich komplett vergessen.
Ingo war der Erste, der überraschend vor meiner Tür stand, um mit mir einen Kaffee zu trinken, zu schwatzen und zu flirten. Er hatte keine Chance bei mir. Jetzt, wo ich die richtige Nummer habe, denke ich und wasche fast liebevoll die schmutzigen Mohrrüben unter fließendem Wasser. Später, in einigen Jahren, wird der Dreck die Möhren adeln und als Bio ausweisen.
Vorgestern hatten Gisi und ich den heutigen Abend ausgemacht, als sie mit ihrem Mann Rudi, auf dem Weg ins Centrum Warenhaus in der Klement-Gottwald-Allee (heute Karstadt in der Brandenburger), im Volksmund auch Brodwech genannt, bei mir auf’n Sprung vorbeikamen, erinnere ich mich, als mir die Gurke vom Plastebrettchen springt. Ich hebe die Gurke auf und werde ein bisschen sentimental. Weil es solche Treffen im Off, so face to face im 21. Jahrhundert fast nur noch virtuell geben wird. Schade, denn jetzt weiß ich wieder, wie schön Spontanbesuche sein können. Natürlich nicht alle. Der Besuch von Freundin Ilona, einer Schicki-Micki-Braut, die ich in einer Potsdamer Disco, dem Spartakus, kennengelernt hatte, gehörte nicht in die Wohlfühl-Kategorie.
Als junge Frau imponierte mir ihr selbstbewusstes Auftreten, die Selbstverständlichkeit, mit der sie dem Leben und ihrer Umwelt charmant die Erfüllung ihrer Wünsche abrang. Heute verstehe ich nicht mehr, warum ich sie zur besten Freundin erkor, obwohl sie unsere Freundschaft eindeutig zu ihren Gunsten und ihrem Vorteil auslegte. Eigentlich wären sie und ich bis zum Jahrtausendwechsel Freundinnen geblieben, wenn sie mich gestern nicht besucht hätte. Als ich die Tür öffnete, an der es vorher energisch geklopft hatte, drehte Ilona, bevor sie erhobenen Hauptes meine Wohnung betrat, kichernd eine Pirouette vor mir, um ihre neue schwarze Jacke mit goldenen Knöpfen im Armeelook zu präsentieren. Ihr Gesicht war so geschminkt, als hätte jemand mit Fotoshop ganze Arbeit geleistet. Ich starrte sie an und fragte: »Trägt man das jetzt so?« Ilona betrat forschen Schrittes meine Wohnung und erwiderte schnippisch: »Ich bin meiner Zeit immer voraus!« Das bist du bald nicht mehr, dachte ich. Du wirst über rosa Chaneljäckchen nicht hinauskommen, bis ins hohe Alter diese Locken tragen und deinen Horizont auf ein CSU -Frauenbild beschränken.
Der Chicoree vor mir hat seine beste Zeit jetzt schon hinter sich, sieht aber bedeutend appetitlicher aus, nachdem ich die äußeren Blätter beseitigt habe. Ich zupfe beschwingt weiter, bis ich die letzten zarten Blättchen vom Strunk abdrehe.
Das Komplizierte an der gestrigen und überhaupt jeder Unterhaltung mit Ilona sind die ständigen Wiederholungen der immer gleichen Geschichten. In den Achtzigern redete sie vornehmlich über Klamotten und Partys, in den Neunzigern über reiche Typen mit reichen Vätern und später dann, als sie einen standesgemäßen Mann gefunden hatte und zur lebenslangen hauptberuflichen Hausfrau und Mutter wurde, über das schlechte Essen in den Ostkindergärten, die musikalische Früherziehung und die Reitstunden ihres – nach ihrer Meinung – außergewöhnlich begabten Sprösslings. Meine Höflichkeit, ihren Monologen stundenlang unwidersprochen zu lauschen, kostete mich etliche Jahre später eine Menge Geld. Nach der Abnabelung ihres Sprosses, unter Einfluss von Wechseljahren und Langeweile meldete sich Ilona per Anwalt wieder. Sie ließ mir eine Unterlassungsverpflichtungserklärung zuschicken, weil ich unbedachter Weise ein harmloses Foto von uns beiden ins Netz gestellt hatte. Trotz der vielen Möglichkeiten in Form von Handys oder E-Mails, hatte sie keines der Medien zum persönlichen Kontakt genutzt. Nein, da musste ein Abmahn-Anwalt vom Ku’damm her.
Viel zu rabiat greife ich die vergammelten Außenblätter des Chicorees, stapfe zum Mülleimer und schmeiße sie mit Schwung hinein. Weg sind sie. Genau wie Ilona. Nach zwanzigminütiger psychologischer Analyse ihres Lebensgefährten und seiner so gar nicht im Einklang mit ihren Ansprüchen stehenden Handlungen, sagte Ilona, hysterisch mit dem Kopf schüttelnd: »Ich weiß gar nicht, was ich dazu noch sagen soll!« Ich nutzte diese Frage, um meinem Leben eine
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