Herr Möslein ist tot (German Edition)
Ich muss los. Morgen früh klingelt der Wecker.«
Ingo ist aufgesprungen und nimmt mich in den Arm.
»Schade, war gerade so schön!«, flüstert er traurig.
»Hey, du kannst ja fast hochdeutsch sprechen. Toll!« Ich gebe ihm einen Muttikuss auf die Stirn. »Und sei nicht sauer, ja? Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben!«
Auf dem Heimweg durch das fast leere und vergleichsweise dunkle Ostberlin blitzt kurz der Gedanke einer vertanen Chance auf. Ich weiß, dass es noch sehr lange dauern kann, bis ich Carsten finde. Erst in vier Wochen wird die Mauer fallen. Gut, Gisi will ihren Cousin nun doch um Hilfe bitten und ich bei unserem Gastspiel in Hamburg versuchen, telefonisch seinen Arbeitsort zu ermitteln. Aber was heißt das schon? Ich hätte die geschenkte Zeit doch nutzen können, meinen jungen Körper in Schwung zu halten. Vielleicht habe ich heute Nacht aber auch eine Prüfung bestanden, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nach wildem, schmutzigem Sex nicht doch in Ingo verliebt hätte. Das wäre kontraproduktiv.
Ich will meinen Traummann schon 1989 finden! Darum bin ich hier. Darum werde ich die nächsten fünf Jahre, die ich eigentlich mit Ingo verbracht hätte, einfach löschen. Schöne, verliebte und lustige Jahre ohne Happy End. Steuerung-Alt und Entfernen.
Alles wird besser
»Dieser Oktober ist im Schnitt drei Grad wärmer, als andere Oktober der vergangenen Jahre«, hat der Wetterbericht heute verkündet. In Potsdam lacht die Sonne und versucht meine Melancholie zu vertreiben. Ich gebe ihr keine Chance. Ich fühle mich wie ein Hund im Zwinger eingesperrt und bin bis zu unserem Gastspiel in Hamburg zur Untätigkeit verdammt. Gisi teilte mir mit, dass ihr Cousin in Spanien weilt und mir darum bei der Suche nach Carsten nicht behilflich sein kann. Ich war kurz davor, ungerecht zu werden. Musste es denn Spanien sein? Konnte er nicht, wie wir, einfach in den Thüringer Wald oder das Erzgebirge reisen? In der DDR war die Urlaubsentspannung nämlich doppelt so hoch, weil man nicht lange übers Urlaubsziel nachgrübeln musste.
Heute treffe ich mich mit meiner Schwester im Café Heider. Mein Kopf sagt mir, dass der Besuch von Alexandra in Potsdam eine willkommene Abwechslung im Wartezimmer der Liebe sei, meinen Bauch lässt das unbeeinflusst. Er grummelt, bockt und verbreitet schlechte Laune. Ich sitze in einer quietschenden Straßenbahn, die gerade am Alten Markt hält. Die Wilhelm-Külz-Straße, benannt nach dem ersten Vorsitzenden der LDPD , die später Breite Straße heißen wird, obwohl sie sich nicht verbreitert, liegt träge in der Oktobersonne, der Marstall leuchtet im barocken Rot und beherbergt schon jetzt das Filmmuseum. An der Wilhelm-Külz-Straße spiegeln sich die Zwillingshäuser, die im Moment noch den »Klub der Künstler und Architekten Eduard Claudius« und die Disco Spartacus beherbergen. Dahinter, für mich nicht einsehbar, liegt das Rechenzentrum mit seinen Mosaiken. Das und die Fachhochschule, der ich mich jetzt zuwende, müssen sich im nächsten Jahrhundert als sozialistische Denkmale und steinerne Tatwerkzeuge beschimpfen lassen und Bauwerken Platz machen, die schon längst verstorbene Kaiser und Könige auf Kosten ihrer Untertanen kreierten. Meine Wahrnehmung selektiert alles Schöne, schiebt die Sonne und die fröhlichen Menschen auf den Stufen der Nikolaikirche beiseite und konzentriert sich auf das Negative, auch wenn das erst in der Zukunft liegt. Der Theaterrohbau am Ufer der Havel, ein Bühnenturm, fix und fertig, auf seine barock anmutende Ummantelung wartend, wird im Nachwendewahn zügig abgerissen, für viele Jahre einem Provisorium Platz machen, den Steuerzahler Millionen und die Theaterarbeiter Nerven kosten.
Es klingelt, die Türen der Straßenbahn schließen, und wir rattern Richtung Platz der Einheit, dessen Name bald nicht mehr für die Einheit der Arbeiterklasse, sondern wieder für die Einheit Deutschlands stehen wird. Am Luisenplatz, der jetzt noch Platz der Nationen heißt, steige ich aus. Ich will mit einem Spaziergang Richtung Intershop am Obelisk noch ein wenig Zeit totschlagen.
Ich stolpere nachdenklich und frustriert über lose Steine im Bürgersteig der Schopenhauer-Straße und staune, wie viele Baulücken und vergammelte Häuser ich in weniger als 25 Jahren vergessen habe. Mir war auch entfallen, wie viele Kinder in Potsdams Straßen unterwegs sind. Schulklassen, Kindergartengruppen und ganz kleine Kinder, von ihren Erzieherinnen in großen
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