Herr Möslein ist tot (German Edition)
vorgetragenen Argumentation genauso wenig wie ich selbst. Alexandra wollte reisen und leben und als eine an der Palucca-Schule sehr gut ausgebildete Tänzerin viel Geld verdienen.
»Tati, du sagst gar nichts!«
»Alu, ich fahre morgen zu den Eltern, bringe Pauli in die Ferien. Was soll ich Mama sagen? Sie wird sehr traurig sein!«
»Sag ihr nichts!«
»Na aber … sie wird es irgendwann ohnehin erfahren!«
»Aber sag es schon aus taktischen Gründen erst, wenn ich wirklich in WB bei Tante Ev bin!«
»Aber deine Mama wird trotzdem glauben, sie sieht dich nie wieder … tut dir das nicht leid?«
»Mama macht sich doch immer Sorgen, egal, ob ich hierbleibe oder nicht! Aber ich halte es hier einfach nicht mehr aus. Das müsst ihr doch verstehen!«, flüstert Alu jetzt so laut, dass ich hektisch unsere Jacken vom Stuhl reiße, meine Schwester am Arm greife und aus dem Café ziehe.
Etliche alte Menschen warten an der Straßenbahnhaltestelle vor der Tür. In ein paar Jahren werden es überwiegend Rentnergruppen sein, die Potsdams Innenstadt bevölkern, denke ich. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass im Jahr 2050 vierundsechzig Prozent aller Deutschen im Rentenalter sein werden. Jaha! Da kommen auf ein unerzogenes Kind drei Rentner, die es wegen ruhestörenden Lärms bei der Polizei anzeigen. Nicht schön. Aber wohin mit den vielen Rentnern, sollten sie nicht – wie im Moment von mir vermutet – mangels Rentenzahlung unter der Brücke schlafen? Durch die Babyklappe passen sie ja nicht durch. Eine Straßenbahn hält rumpelnd und quietschend vor dem Café. Die wartenden Rentner steigen ein. Rentner, die 1989 noch wie Rentner aussehen dürfen, später traut sich das ja keiner mehr.
Während sich die Straßenbahntüren nach schrillem Klingeln schließen, setzen wir uns auf das Fensterbrett des Heiders und recken unsere Gesichter in die Sonne. Ich weiß nicht, was Alu denkt, aber ich frage mich, ob ich sie vielleicht mit meinem Zukunftswissen zum Bleiben überreden könnte, wenn schon das Mama-Argument nicht zählt. Würde ihr weiteres Leben dadurch besser? Was würde passieren, wenn sie hier bliebe? Gutes, Schlechtes? Würde sie nach der Wende auch eine Umschulung zur Krankenschwester machen? Wahrscheinlich nicht. Ich erinnere mich, wie viel Zeit vergehen musste, bevor wir Ossis von den sozialen Möglichkeiten, neuen Gesetzen, Versicherungen und Ämtern ausreichend viel wussten, sie auch in Anspruch zu nehmen. Dieses Wissen wurde den Umsiedlern wie meiner Schwester auf einem goldenen Tablett serviert. Alexandra hatte ein halbes Jahr Wissensvorsprung und kompetente Ansprechpartner auf den Ämtern, die in den neuen Bundesländern erst geschult werden mussten. Auf der anderen Seite hat Alu durch die Flucht fast alles verloren. Und ich weiß schon jetzt, dass ich durch die Gastspielreise nach Hamburg auch diesmal nicht in die Geschichte eingreifen und ihre Habseligkeiten retten kann, bevor Fremde ihre Pankower Wohnung fleddern. Wenn Alexandra im November ’ 89 nach Ostberlin zurückkehren kann, wird nichts mehr da sein, nicht einmal ihre Fotoalben und Erinnerungen.
»Und du willst hier alles stehen und liegen lassen? Gib mir doch wenigstens vorher deine Fotoalben!«
»Wie denn? Ich arbeite jeden Abend, und du fährst zu den Eltern und dann nach Hamburg!«
»Wie wohl. In einem Paket per Post.«
»Mhm!«, brubbelt Alu genervt und zündet sich eine Zigarette an. Im Bewusstsein der Vergeblichkeit wage ich einen letzten Versuch, meine Schwester zum Bleiben zu bewegen: »Sag mal Alu, wenn in Deutschland in wenigen Tagen die Grenzen öffnen würden und du überall hinfahren könntest, würdest du dann bleiben?«
»Tati, die Grenzen werden nie fallen. Das weißt du auch.«
»Warum bist du dir so sicher? Immer mehr Menschen gehen auf die Straße und demonstrieren. Tausende sind allein in diesem Monat abgehauen. Die DDR blutet aus.«
»Genau, und wir sind bald DDR !« Alexandra betont jeden Buchstaben des untergehenden Landes einzeln. »D«, »D«, »R«! Ich schaue meine Schwester verständnislos an. »Na, der doofe Rest!«, triumphiert sie und lacht. Ich seufze.
»Tati, warum soll ich denn hierbleiben, wenn keiner mehr da ist? Und die, die hier bleiben und demonstrieren, die wollen doch nur einen besseren Sozialismus. Ph!«
»Und du meinst, der Kapitalismus ist besser?«
»Auf jeden Fall freier. Ich kann weltweit zu Vortanzterminen gehen!« Und keinen Job mehr als Tänzerin bekommen, könnte ich jetzt erwidern. Lasse es
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