Herr Möslein ist tot (German Edition)
nicht zu verlieren, und stürzen immer noch kichernd auf die Straße. Jürgen lehnt völlig erschöpft an einer Laterne und raucht eine Beruhigungszigarette. »Mit euch kann man ja was erleben!«, empfängt er uns mit bebender Stimme.
»Ach Jürgen, nun hab dich mal nicht so mädchenhaft. Dir hat doch keiner etwas getan!«, erwidere ich kichernd.
»Und schwul sein ist doch auch nichts Schlimmes!«, setzt Betty nach.
»Bei uns gilt aber der § 175 des Strafgesetzbuches«, doziert der angehende Jurist.
Stimmt, fällt mir ein, in der DDR ist dieser Paragraf schon Jahrzehnte nicht mehr rechtskräftig, in der BRD sehr wohl. In Bayern werden in ungefähr 23 Jahren sogar wieder schwule Schützenkönigspaare verboten. Wie hinterwäldlerisch, diskriminierend und intolerant. In mir regt sich eine aus Erfahrung und Unmut resultierende ironische Arroganz. »Du wirst dich noch wundern, mein Lieber«, grinse ich, »bald dürfen Schwule per Gesetz eine eheähnliche Gemeinschaft eingehen. Quasi heiraten!«
Jürgen grinst zurück. »Na klar!«, höhnt er, »Und bald wird per Gesetz die Mauer abgerissen.«
Entweder wirkt das Sturzbier oder Betty findet Jürgens Erwiderung komisch, jedenfalls lacht sie schallend und versucht jetzt selbst, einen Brüller zu landen: »Wenn die Mauer fällt, hahahaha, werde ich Bundeskanzlerin!«
»Genau, Betty! Bald gibt’s hier eine ostdeutschen Kanzlerin!«, platze ich heraus. Betty krümmt sich so vor Lachen, dass sie Halt an der Laterne sucht. »Hihihi! Mensch Tati, ich pullere gleich ein. So lustig bist du sonst nie!«, Betty wischt sich die Lachtränen aus den Augen. »Du solltest Komikerin werden!«
»Ja«, ich wiehere schon fast, »werde ich. Aber das heißt dann Comedian!«
»Hä?« Jürgen staunt.
»Und die Geschäfte werden nicht offen sein, sondern open, und es wird statt Drogerien Body Shops geben, und Friseure heißen Hairkiller und Hausmeister Facility Manager!« Ich könnte ewig so weitermachen, denn mein Publikum kommt aus dem Lachen über die absurd scheinenden Zukunftsvisionen gar nicht mehr raus.
»Und ich werde area manager east west!«, sagt Jürgen kichernd.
»Da musste aber auf die Controller aufpassen«, sage ich und denke an unser Hotel-Stadt-Berlin-Desaster, das man in den Achtzigern vielleicht dämliches Missgeschick mit tragischem Ausgang nennen würde.
»Und ich werde …«, Betty grübelt.
»Und du wirst Ballett Management Director und einen großartigen Mann heiraten, den du jetzt noch nicht kennst!«
»Und ich? Finde ich auch eine Frau?«
»Natürlich, und du bekommst zwei Kids, und ich finde einen Mann im Netz.«
»Hahaha, die Männerfischerin!« Betty verschluckt sich fast. »Hierher zu gehen war wirklich eine lustige Idee, Tati! Ich hätte sonst nie erfahren, wie lustig du sein kannst und so eine Schürze … hihihi … so eine Schürze hätte ich sonst nie im Leben gesehen!«
Auf der Rückfahrt kullern mir dann doch Tränen der Trauer durch mein Action-Make-up. Der Abend war zwar witzig, aber umsonst.
Komm unter meine Decke
Oh, oh, oh, das muss das Gefühl sein, das ich in meiner Jugend immer mit Liebe verwechselt habe. Mein Körper scheint für jede Ablenkung dankbar zu sein und reagiert mit einer Heftigkeit, die sämtliche Denkprozesse verhindert. Nur ganz tief in meinem Unterbewusstsein blinkt im Pulsrhythmus warnend eine Alarmanlage, während schlanke Hände meinen Rücken massieren. Ich atme laut, fast hechelnd, wie nach einem fünfminütigen Cancan, während warme weiche Lippen an meinem Ohrläppchen knabbern. Aufregende erotische Erinnerungen laufen wie ein Pornofilm vor meinem geistigen Auge ab, während ich in Ingos große braune Augen schaue.
»Isch gloube, du schielst!«, sagt mein jugendlicher, ursprünglich aus Dresden stammender Draufgänger, der, wenn er Alkohol trinkt und dann gierig wird, in seinen Mutterdialekt verfällt. Diese Tatsache holt mich in die Realität des kleinen Zimmers seiner Altberliner Wohnung zurück. Die braungeblümte vergilbte Tapete zeugt mit einigen kleinen und helleren viereckigen Flecken von Vormietern, die ihre Familienfotos an der Wand zu hängen hatten. Ingo und ich knien auf einer schmalen Matratze im Kerzenschein.
»Ich schiele überhaupt nicht!«, erwidere ich und schließe zickig die oberen Knöpfe meiner Bluse. Ingo hatte mich heute, nach unserem Auftritt im Lindencorso, das 1993 abgerissen wurde und zu DDR -Zeiten eine Disco beherbergte, ganz geschickt bequatscht, mit ihm auf einen Drink in
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