Herr Möslein ist tot (German Edition)
Erinnerungsgefühle an Mamas in ihrem tortengroßen Elektro-Mini-Backofen gebackene und meist zusammengefallene Rosinen-Quark-Torte aus.
Ich gebe meine schlechte Laune auf und mich dem Genuss meines Gedecks hin. Dabei lasse ich meinen Blick durch das vollbesetzte Lokal schweifen. Die Möbel würde ich heute zwar mit » DDR -Originalschauplatz« beschreiben, aber die Atmosphäre im Café ist großartig. Die Gäste lachen, reden, rauchen. Kein Handy, kein I-Phone, kein Rauchergang vor die Tür unterbrechen die angeregten Gespräche. Ich kann nicht anders, ich freue mich. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in der Vergangenheit kann ich den Augenblick genießen, plane nicht ununterbrochen meine »Carsten macht mich glücklich«-Mission, sondern bin selbst glücklich. Über alles. Mein Leben, die Sonne und die Raucherfreiheit! Alexandra betritt die Szene. Meine junge, schöne Schwester, der die Ereignisse der nächsten Jahre tiefe Schatten unter die Augen zeichnen werden, hat ihr dunkelblondes Haar zum Pferdeschwanz gebunden, trägt ziemlich coole Jeans und einen roten Pullover mit V-Ausschnitt.
»Entschuldige Tati, ich habe es nicht schneller geschafft.« Sie setzt sich mir gegenüber und bestellt das Gleiche wie ich. Alexandra wohnt in Pankow und tanzt derzeit fast täglich zusammen mit ihrem Tanzpartner im Varieté Berlin. Sie ist wie ich Freiberuflerin, verdient gut und scheint privat und beruflich glücklich zu sein. Leider hören wir manchmal wochenlang nichts voneinander, was in Zeiten nicht vorhandener Vernetzung völlig normal ist. Alexandra schlürft an ihrem Kaffee und redet ohne Punkt und Komma. Ich erfahre von dem Druck ihres Tanzpartners, der immer neue akrobatische Übungen in die Choreografien einbauen will, und von kleinen Intrigen zwischen den Kollegen des Varietés. Okay, denke ich, so viel hat sich dann doch nicht geändert, Alu redet und schimpft. Alles wie immer. Ich grinse sie an und berichte ihr, mittenhinein in eine kleine Pause des Luftholens, von Bettys und meinen Erlebnissen in Westberlin, von Jürgen und dem Kellner mit der durchsichtigen Schürze.
»Das ist ja witzig. Aber wie seid ihr in so ein Etablissement geraten?« Dieses Thema gefällt meiner Schwester. Ich habe ihre volle Aufmerksamkeit.
»Och … ich habe eine ganz bestimmte Kneipe am Wittenbergplatz gesucht!«
»Woher kennst du den Wittenbergplatz?«
»Hätte ich ihn gekannt, hätte ich ja nicht gesucht. Ich wollte einen Mann treffen!«
»Einen schwulen Kellner, der kein Geld hat, sich einen Schlüpfer zu kaufen?«, scherzt Alu.
»Nein, eben nicht. Wir waren in der falschen Kneipe und hatten dann keine Zeit mehr, weiter zu suchen!« Weil Alu mich immer noch fragend anschaut, erzähle ich vorsichtig etwas mehr. »Ich bin mir ganz sicher, dass dort in der Nähe ein Mann arbeiten muss, der Carsten heißt und perfekt zu mir passt.«
»Ein Tänzer?«
Ich gebe auf. »Jaja! Ein Tänzer!« Sie versteht es ja sowieso nicht.
»Pass auf«, sagt meine Schwester verschwörerisch, schiebt die hässliche Blumenvase mit den Plastikblumen beiseite und beugt sich weit über den Tisch. »Ich muss dir etwas Wichtiges sagen!«
»Nur zu, Alu!« Alu stutzt.
»Schön, dass du mich nicht mehr Lexi nennst, das hatte immer so etwas Anrüchiges. Lek-si!«
»Gerne!« Ich hatte mich irgendwann in den Neunzigern entschlossen, sie so zu nennen, wie alle ihre Freunde. Jetzt eben ein bisschen früher, nicht schlimm.
»Also Tati, du könntest meinen Tanzpartner haben. Wir, also mein Uwe und ich, haben ein Visum nach Ungarn bekommen. Für die Oktoberferien.« Uwe ist Alus LAG , ihr Lebensabschnittsgefährte.
»Toll!«, sage ich matt, denn ich weiß schon, was sie mir gleich eröffnen wird. Ich taste unter dem Sprelacart-Tisch nach einer eventuell angebrachten Wanze, finde aber nur einen steinharten Ostkaugummi und nehme eine Haltung ein, die so wenig wie möglich konspirativ und eher entspannt desinteressiert wirkt.
»Finde ich auch.« Alu dagegen wirkt auffällig angespannt. »Du ahnst es sicher schon: Uwe und ich wollen weg.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Soll ich sie abhalten? Das hatte ich schon einmal versucht. Ohne den Gang der Geschichte auch nur im Ansatz zu erahnen, hatte ich sie angefleht und ihr eindringlich die politischen Entwicklungen in der DDR , die eine bessere Zukunft versprachen, vor Augen gehalten. Alexandra ließ sich nicht überreden. Sie wollte auf keinen Fall in der DDR bleiben und glaubte meiner halbherzig
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