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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Meissner
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Bollerwagen geschoben, nutzen den sonnigen Herbst für einen Spaziergang. Die sind mir alle zu laut. Dieses piepsige, unmotivierte Kreischen und Lachen zwingt mich, einen Schritt zuzulegen. Sonst beschimpfe ich die Kiddis noch. So wie kürzlich, also in der Zukunft, als zwei Nachbarkinder in dem vor meinem Fenster ausgehobenen Graben lautstark rumtobten. Da habe ich mein Fenster geöffnet und freundlich gesagt: »Wenn ihr hier spielt, kommen eure Eltern ins Gefängnis!« Jetzt laufen alle Kinder weg, wenn sie mich nur friedlich auf dem Balkon sitzen sehen. Aber ich bin kein Kinderhasser. Natürlich nicht. Es gibt ja auch tolle Kinder. Pauli zum Beispiel. Als ich Pauli zur Welt brachte, hing an meinem Krankenhausbett ein Schild mit dem Kürzel AEG . In der DDR war ich mit 23 eine alte Erstgebärende. Haha, denke ich, hätten die damals gewusst, was wirklich ALTE Erstgebärende sind. Nicht mehr lange, und die Frauen werden sehr genau und manchmal bis in die Wechseljahre hinein darüber nachdenken, ab wann sie sich ein Kind leisten wollen. Wenn Pauli erwachsen ist, zwingt ein Kind seine Mutter entweder zum Zusammenbleiben mit dem eventuell ungeliebten Ernährer oder zu einem Leben am Existenzminimum. Ohne sicheren Kinderkrippen- und Kindergartenplatz und finanzielle Sicherheit hätte ich auch noch bis Mitte vierzig gewartet. Dann hätte ich mein Kind Ingwer-Antoinette genannt, wenig später festgestellt, dass ich laute Kinderstimmen nicht mehr dauerhaft vertrage, und mir vom Betreuungsgeld Beruhigungspillen gekauft. So!
    An diesem sonnigen Oktobertag bin ich gut in Form, weil ich immer, wenn ich schlecht drauf bin, entweder putzen oder ungerecht werden muss. Heute habe ich mich für ungerecht entschieden. Ich meckere weiter in mich hinein, bis ich den Flachbau des Intershops betrete. Ich will nur mal kurz riechen. Ich ziehe die Luft tief durch die Nase ein und fühle mich in meine Kindheit zurückversetzt. Jetzt weiß ich wieder, wie ein Westpaket schnupperte: als ob man einen Douglas- und einen Tchibo-Laden verrührt und Ariel darüber ausschüttet. Meine auf diese Art aufgebesserte Laune rutscht wieder in den Keller, als ich wenig später das Nauener Tor erblicke, welches jetzt noch gelb gestrichen ist, aber seine Farbe bald in durchfallgrünbraun ändern muss, weil Denkmalschützer nicht über Geschmack diskutieren. Meine Laune schwankt wie eine Sinuskurve. Plötzlich pfeift es hinter mir. Ich vergesse vor Freude darüber, dass mir endlich mal wieder jemand hinterherpfeift, wie sauer ich eben noch war. Mein Gott, denke ich, wie lange ist das her? Zwanzig Jahre? Reicht nicht! Früher hätte den Pfeifer mein böser Blick zum Schweigen gebracht, heute würde ich mich am liebsten mit Handschlag bei ihm bedanken, traue mich aber nicht. Stattdessen drehe ich mich freudig erregt um und winke ihm freundlich zu. Ein blutjunger Bursche winkt zurück. Ich fühle mich sehr geschmeichelt und laufe beschwingt weiter zum Café Heider.
    ***
    Das einzige durchgängig privat geführte Café Potsdams befindet sich gleich gegenüber des Nauener Tores. Ich war früher selten dort, weil es immer überfüllt war. Das Café Heider war als Künstler- und Schwulentreff bekannt. Ich trete mit jugendlichem Schwung ein. Ich bemühe mich, mit Hilfe negativer Gedanken jedes Aufkeimen guter Laune zu bekämpfen. Ich wedele mit beiden Händen den mir entgegenwabernden Zigarettenqualm wie ein militanter Nichtraucher aus dem Gesicht, rege mich künstlich über die vollbesetzten Tische auf, deren hässliche Tischdecken die noch hässlicheren mit Sprelacart (also Resopal) furnierten Tischplatten verdecken. Meine Schwester ist noch nicht da, aber ich finde überraschend einen Platz am Fenster, gleich neben der nikotinvergilbten Gardine. Ich zünde mir eine Kenton an. Mist, mein Bauch gibt mir eindeutige Wohlfühlsignale. Wahrscheinlich, weil ich nicht zum Verbrecher abgestempelt werde, wenn ich im Café rauche. Der Kellner kommt, statt typisch sozialistisch, freiheitlich-demokratisch, also viel zu schnell an meinen Tisch und verhindert weiteren erwünschten Frust. Ich bestelle eine Tasse Kaffee komplett und ein Stück Quarktorte aus der hauseigenen Bäckerei. Ich hoffe zur Pflege meiner üblen Laune auf langes Warten und einen Geschmack nach Zone und Zichorie. Leider kommt das Gewünschte nach wenigen Minuten, der hübsche Kellner flötet ein: »Bitte sehr, schöne Frau!«, und der Geschmack des Kuchens löst auf meiner Zunge lecker-kuschelige

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