Herr Möslein ist tot (German Edition)
seiner Videokamera und mein heftiger, wie jedes Mal von großer Aufregung verursachter Migräneanfall, der mich kurz vor unserer Abfahrt Richtung Invalidenstraße wie ein Fausthieb traf. Der gestrige Tag war auf ganzer Linie semi-erfolgreich. Ich blinzle ein wenig und blicke durch die Scheiben meines Erkerfensters in tiefes Grau.
Ich bin immer noch hier, in der Ernst-Thälmann-Straße 35, im November 1989. Wahrscheinlich, weil sich Carsten gestern noch nicht ausreichend stark in mich verliebt hat. Bei unserem ersten Kennenlernen hatte er mich auch etliche Tage im Ungewissen gelassen. Darum bin ich mir sicher, dass das Schicksal bei unserer Verabredung am 9. November den erhofften positiven Verlauf nehmen wird. Ich schlurfe in die Küche, brühe mir routiniert einen Vorwende-Kaffee auf und setze mich ganz selbstverständlich an den alten Küchentisch. Ich fühle mich in meiner DDR -Küche so unglaublich wohl, dass ich mich unwohl fühle. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Warum leide ich nicht? Während ich mich am Anfang meiner Zeitreise ständig verfolgt und meiner Freiheiten beraubt fühlte; ich krampfhaft, fast verzweifelt und möglichst schnell nach einem Schlüssel zu meinem privatem Glück suchte, scheint sich in den letzten Tagen meine komplette Assimilation in den ostdeutschen Alltag mit Schlangestehen, Kindergarten und Ofenheizung in meiner geteilten Wohnung im geteilten Land vollzogen zu haben. Ich verbrenne mir den Gaumen am Rondo-Kaffee und wundere mich, dass ich eine in zwanzig Jahren durch Medien, Gespräche, Filme und Bücher verinnerlichte Überzeugung, eine schwere Kindheit und Jugend in der DDR durchlitten zu haben, nicht fühlen kann. Vielleicht ist diese ambivalente Empfindung vergleichbar mit dem Verzehr von Omas Kartoffelbrei, den sie mit 250 Gramm Butter anreicherte und zu fettem Schweinebraten in Soße servierte. Da ist es auch völlig egal, dass mein Gaumen durch Carstens Sterneküche verwöhnt und meine Geschmackspapillen durch Reisen in die ganze Welt verändert sind: Omas Schweinebraten führt bis heute ganz selbstverständlich zu pantoffelwarmen Kindheitsgefühlen.
Ich stelle den Kaffeepott in die Spüle und öffne, so lautlos wie möglich, die Tür zu Heinzis Zimmer. Heinzi schnarcht. Ist ja auch erst acht Uhr. Auf der Ablage am Kopfende seiner Schlafcouch sehe ich ein neu gerahmtes Foto. Ich bin neugierig, vermute, seine neue Flamme darauf sehen zu können, und schleiche mich näher. Beim Anblick seiner neuen Flamme muss ich mich ziemlich anstrengen, nicht laut loszulachen: Heinzi hat seinen neuen, delphingrauen Trabant, mit der Klopapier-Rolle im Häkelmützchen in der hinteren Ablage, liebevoll von allen Seiten fotografiert und alle Ansichten in diesem schicken grünen Holzrahmen über- und nebeneinander drapiert.
Ich hinterlasse Heinz die Nachricht, dass ich Pauli bei Gisi abhole, und mache mich auf den Weg. Meine Freunde sind bereits wach und schon wieder fleißig mit Bauarbeiten an ihrem Haus beschäftigt. Die Kinder spielen in dem überdimensional großen Kinderzimmer, das Gisi mit Schaukel und unüberschaubar vielen Spielsachen für ihren Sohn Max ausgestattet hat. Wahrscheinlich alle mit Weichmachern, von denen hier noch niemand etwas gehört hat, verseucht. Pauli ruft nur ein kurzes »Hallo, Mami!« und verschwindet wieder zu ihrem Kumpel. Gisi kocht Kaffee.
»Na, Tati, wie war es in Berlin? Hast du deinen Carsten gefunden?«, fragt sie eher höflich als wirklich interessiert.
»Hab ich!«
»Hey, warum so kurz angebunden? Ich habe mehr Euphorie erwartet, nach dem Theater, das du gemacht hast!«
»Doch, doch, ich freu mich. Habe mich sogar mit ihm verabredet.« Ich habe den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da betritt Rudi die Küche. Seine Wange scheint fast abgeheilt zu sein, ist nur noch ein wenig geschwollen.
»Hallo, Tati«, bei meinem Anblick macht er sein Witz-Gesicht.
»Bitte jetzt keine Witz, Rudi. Bitte!«
Rudi greift mit großer Geste in die Hosentasche seiner dunkelblauen Arbeitshose und sagt: »Ich habe gar keine Zeit für Witze. Ich wollte dir nur anbieten, deinen Carsten mit meinem Handtelefon anzurufen!« Dabei hebt er den aus seiner Hose befreiten Hörer eines alten grauen DDR -Telefons in die Höhe. Das abgeschnittene Restkabel schaukelt, weil sich Rudis Körper vor Lachen schüttelt.
»Du bist doof!« Ich schlage nach ihm, und er weicht hüpfend aus. »Ich erzähle dir gar nichts mehr, wenn du mich nur verscheißerst.«
»Rudi, du bist
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