Herr Möslein ist tot (German Edition)
Rücksicht auf Verluste in seine Richtung, und als ich direkt vor ihm stand, vergaß ich alles: seinen bürgerlichen Namen und meinen kompletten Englischwortschatz. Statt etwas Lustiges, Charmantes und auf jeden Fall Kluges zu sagen, entglitt meinem Mund der peinliche Satz: »Hallo, J.R ., I love you!« J.R. guckte mich für eine Millisekunde irritiert an, verzog dann sein Gesicht zu diesem mir so vertrauten, wunderbar fiesen Grinsen des Chefs der Ewing-Oil-Company und verschwand. Peinlich! Das darf mir heute nicht passieren.
Mit meiner Yoga-Atmung versuche ich die Watte im Kopf zu verhecheln und wiederhole – wider das Vergessen – bei jedem Ausatmen den heute so wichtigen Namen: Carsten, Carsten, Carsten. Ich ziehe hechelnd meine Lippen nach und Opas schickes Jackett glatt. Dann öffne ich ruckartig, wie die Kellner der Schwarzen Rose, die Eingangstür zum Goldenen Apfel und bleibe schnappatmig direkt auf der Türschwelle stehen. Betty dreht sich überrascht zu mir um, hinter ihr wirft Carsten einen kurzen Blick in meine Richtung, aus dem Augenwinkel sehe ich Alu rechts von mir eine Apfelschorle trinken. Meine Knie zittern wie verrückt. Ich drehe nervös an meiner Brosche, setze meinen rechten High-Heel-Fuß ins Lokal, und dann überschlagen sich die Ereignisse.
Daliah Lavis Lied »Willst du mit mir gehen« klingt klirrend aus alten Boxen, ein weißes Wollknäuel springt mir quietschend zwischen die wackligen Exquisit-Pumps, Carsten ruft laut »Daliah«, ich registriere, dass er das Wollknäuel meint, stolpere und fliege der Länge nach vor den Tresen. Es gibt eine Steigerung zu J.R. , denke ich, während Carsten wiederholt Daliah ruft, wahrscheinlich, um ihren Namen nicht zu vergessen. Ganz kurz und blitzartig schießt mir der – sozialistische Parteitage beschreibende – Satz: »Lang anhaltender, tosender Applaus« durch den Kopf, den ich jetzt vorsichtig anhebe und dabei mit meiner Wange an Daliahs Schnauze stoße. Sie schnüffelt an meinem Gesicht. Daliah hat Mundgeruch. Auch darum bin ich dankbar, dass mir die Schnauzbärte beim Aufstehen helfen, indem sie mich an Opas Jackett in die Höhe ziehen. Schon steht Alu neben mir. Sie versucht, meine nach vorn gefallenen, ursprünglich nach hinten gegelten, orangen Haare wieder an meinem Hinterkopf zu befestigen, und wischt mir gleichzeitig mit einem spuckebenässten Taschentuch durchs Gesicht. Ich schaue auf Opas Jackett, dessen helles Beige von schwarzen Flecken an Ärmeln und Revers beschmutzt ist. Meine Haare fallen erneut Action-Spray-steif nach vorn, und Alu holt sie hektisch wieder zurück. Mir brummt der leere Schädel. Mein Gehirn reagiert nicht. Nicht auf Bettys aufgeregtes Rufen: »Bring doch mal jemand Eis zum Kühlen!«, nicht auf Alus Taschentuch an der Wange oder die schnauzbärtigen Helfer, die sich jetzt an den Tresen zurückgezogen haben.
Als sich mir ein blondgerahmtes pausbäckiges Gesicht nähert, mir ein Geschirrhandtuch entgegenhält und sagt: »Hier, Eiswürfel, zum Kühlen!«, ist mein Kopf zwar immer noch leer, aber mein Herz scheint überzulaufen. Mich überkommt ein ganz vertrautes und seit Wochen vermisstes Gefühl von Geborgenheit. Ich schaue in die sorgenvoll blickenden, braungrünen Augen und lächle. »Hallo Carsten!« Dann mache ich den schon oft geübten erotischen Augenaufschlag und blicke meinem Retter, so verliebt, wie mit Brummschädel möglich, ins Gesicht. Mein Prinz legt mir das Eiswürfelpäckchen in die Hand, hält kurz inne, als nähme er Witterung auf, und sagt lächelnd zu mir: »Du riechst wie meine Mama!« Sofort fällt mir Tantchens 4711 ein. Die Wut über meine, in einem Anfall ostdeutscher Unwissenheit vollzogene, Parfümierungsaktion trifft mich wie ein Eimer kaltes Wasser, der aus großer Höhe über mir ausgegossen wird. Ich bin bestürzt, peinlich berührt und zutiefst verärgert. Carsten blickt milde lächelnd von meinem Gesicht auf meine wieder aufrecht stehenden, orangen Action-Haare und sagt dann zu Betty: »Hoffentlich ist deiner Freundin nichts Schlimmeres passiert. Sie guckt so … wie soll ich sagen …!«, und ein Schnauzbärtiger vervollständigt Carstens Satz näselnd: »Wie ein frisch gevögeltes Eichhörnchen mit Punkfrisur! Haha!«
»Haha, ihr seid lustig!«, meine Schwester wird richtig sauer. »Schuld ist doch nur dieser Drecksköter da!«, sagt sie. Carsten, der sich wieder hinter die Bar verzogen hat, ruft plötzlich so laut, wie ich es gar nicht von ihm kenne: »Wenn du noch ein Wort
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