Herr Palomar
zu Jupiter über.
Jupiter in seiner majestätischen, aber nicht schweren Masse trägt zwei blaugrüne Äquatorstreifen wie eine prächtig bestickte Schärpe zur Schau. Auswirkungen ungeheurer atmosphärischer Stürme übersetzen sich in eine wohlgeordnete ruhige Zeichnung von raffinierter Einfachheit. Doch die wahre Pracht dieses luxuriösen Planeten sind seine funkelnden Satelliten, die jetzt alle vier in einer schrägen Linie zu sehen sind wie ein diamantenbesetztes Szepter. Entdeckt von Galileo, der sie Medicea sidera, »Gestirne der Medici« nannte, kurz darauf umbenannt von einem holländischen Astronomen, der ihnen ovidische Namen gab – Io, Europa, Ganymed und Kallisto –, scheinen diese Jupitermonde einen letzten Abglanz von neoplatonischer Renaissance auszustrahlen, als wollten sie nicht zur Kenntnis nehmen, daß die eherne Ordnung der himmlischen Sphären zerfallen ist, zerstört durch das Wirken gerade ihres Entdeckers.
Ein Traum von antiker Klassik weht um Jupiter; ständig erwartet Herr Palomar, während er ihn durchs Teleskop betrachtet, eine olympische Metamorphose. Doch es gelingt ihm nicht, das Bild scharf zu halten: Er muß für einen Moment die Lider schließen und warten, daß die geblendeten Augen wieder zu einer präzisen Wahrnehmung der Konturen, der Farben, der Schatten gelangen, aber auch warten, daß die Einbildungskraft sich von fremden Kleidern befreit und darauf verzichtet, mit einem Bücher wissen zu prunken.
Wenn die Einbildungskraft der schwachen Sehkraft zu Hilfe kommen soll, muß sie unverstellt sein, spontan und direkt wie der Blick, der sie entzündet. Was war die erste Assoziation gewesen, die Herrn Palomar beim Anblick Jupiters in den Sinn gekommen war und die er als ungehörig verdrängt hatte? Er hatte den Planeten wogen und wallen gesehen und die aufgereihten Monde als blubbernde Luftbläschen, die aus den Kiemen eines Fisches aufsteigen, eines dicken runden schillernden und gestreiften Tiefseefisches …
In der folgenden Nacht geht Herr Palomar wieder auf die Terrasse, um die Planeten noch einmal mit bloßem Auge zu sehen. Der große Unterschied ist, daß er hier nicht umhin kann, die Relationen mit einzubeziehen, die Proportionen zwischen dem jeweiligen Planeten, dem Rest des Firmaments, das sich nach allen Seiten im Dunkel verliert, und ihm als Betrachter, was nicht der Fall ist, wenn sich die Beziehung in einem illusorischen tête-à-tête zwischen dem separaten, von der Linse herangeholten Objekt Planet und dem betrachtendem Subjekt Palomar herstellt. Gleichzeitig hat er von jedem Planeten das detaillierte Bild in Erinnerung, das er gestern gesehen hatte, und versucht es in den winzigen Lichtfleck einzufügen, der dort den Himmel durchbohrt. So hofft er, sich den Planeten wirklich anzueignen – oder zumindest soviel von ihm, wie von einem Planeten in ein Auge eindringen kann.
Die Betrachtung der Sterne
Wenn eine besonders sternklare Nacht ist, sagt sich Herr Palomar: Ich muß die Sterne betrachten gehen! Er sagt wirklich »Ich muß«, weil er Vergeudung haßt und es unrecht findet, all diese vielen Sterne, die ihm zur Verfügung gestellt werden, zu vergeuden. Außerdem sagt er »Ich muß«, weil er nicht viel Übung im Betrachten der Sterne hat, so daß ihn dieses einfache Unternehmen immer eine gewisse Anstrengung kostet.
Es beginnt mit der Schwierigkeit, einen geeigneten Platz zu finden, von dem aus sein Blick ungehindert und ohne die Aufdringlichkeit des elektrischen Lichts durch das ganze Himmelsgewölbe schweifen kann; zum Beispiel einen einsamen Strand an einer sehr fachen Küste.
Unerläßlich ist ferner die Mitnahme einer Himmelskarte, ohne die er nicht wüßte, was er gerade betrachtet. Doch von einem Male zum andern vergißt er, wie man sie ausrichtet, und muß sie erst wieder gründlich studieren. Um die Karte im Dunkeln entziffern zu können, muß er sich auch eine Taschenlampe mitnehmen. Das viele Vergleichen zwischen Himmel und Karte zwingt ihn, die Lampe fortwährend an- und auszuknipsen, und durch den ständigen Wechsel von Licht und Dunkel ist er dann jedesmal fast wie geblendet und muß seine Augen erst wieder umgewöhnen.
Würde Herr Palomar ein Teleskop benutzen, so wären die Dinge einerseits noch komplizierter und andererseits einfacher. Für den Augenblick interessiert ihn jedoch die Erkundung des Himmels mit bloßem Auge, nach Art der antiken Seefahrer und der nomadischen Hirten. Mit bloßem Auge heißt freilich
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